Grenzenlos? Stichworte zur Diskussion um das Thema Migration

Grenzenlos?

Stichworte zur Diskussion um das Thema Migration

unfertige Gedanken nicht vom, sondern aus dem
Jour Fixe Gewerkschaftslinke Hamburg, 13. August 2024

Von H.L.

Nun sag’, wie hast du’s mit der Religion?
Du bist ein herzlich guter Mann,
Allein ich glaub’, du hältst nicht viel davon.“

Gretchen zu Faust, aus Goethes „Faust 1“

Das Thema der Migration und die Frage, ob die Öffnung aller Grenzen politisch und moralisch geboten, oder ob sie im Gegenteil politisch naiv und den Angriff auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen hier moralisierend flankiert, wird immer wieder in den Mittelpunkt der Debatten gestellt. Mal wird sie von rechts benutzt, um soziale und politische Auseinandersetzungen zu kanalisieren; mal wird sie von links zur „Gretchenfrage“ nach der Legitimität einer politischen Position erhoben.

Im Zusammenhang mit der Abspaltung der Fraktion um Sahra Wagenknecht von der Linkspartei und ihr neues Projekt BSW wird oft geäußert, „ja, gute Ansätze, aber ihre Position zur Migration ist inakzeptabel!“. Solch eine Abgrenzung ist schnell ausgesprochen. Aber was haben wir für eine Position zu dem ganzen Komplex? Wollen wir uns dazu (real-) politisch positionieren? Welche Alternativen gäbe es?

Wenn wir uns um die Programme von Parteien anschauen: Was vertritt das BSW überhaupt für eine Position? Und welche die Linkspartei?

Im Folgenden der Versuch einer Skizze anhand der Wahlprogramme zur Europawahl:

  1. Was sagt das BSW zur Migration?
  2. Was sagt die Linkspartei zur Migration?
  3. Kritik der Realpolitik
  4. Auswege?
  5. Anhang: BSW und Linksparteiprogramme
zu 1: Was sagt das BSW zu Migration?

Das BSW tritt mit dem Anspruch an, „Realpolitik“ zu machen, grundsätzlich auch Regierungsverantwortung zu übernehmen. Wie sähe – unter der Voraussetzung tatsächlicher Gestaltungsfreiheit der Politik – eine EU unter einer Regierung Wagenknecht aus?

Grundsatz 1: Migration ist in den allermeisten Fällen keine freiwillige, sondern eine erzwungene; also Schwerpunkt „Fluchtursachen beseitigen“:

  • Kriegsgründe: Die EU führt und fördert keine Kriege mehr und zwingt so Menschen nicht mehr, ihre Heimatländer zu verlassen,

  • Wirtschaftliche Gründe: Die EU als Ganzes sowie die einzelnen Mitgliedsstaaten treten in einen „fairen“ wirtschaftlichen Wettbewerb ein; sie bauen ihre eigenen Kompetenzen aus (Bildung / Infrastruktur), fördern „wirkliche“ Innovation. Monopole werden im Inneren wie im Äußeren (koloniale Abhängigkeiten) zerschlagen. Die einzelnen Mitgliedsstaaten werden von der EU unterstützt.
    Die EU (-Staaten) unterlassen die Anwerbung von ausländischen Fachkräften, da deren Abwanderung die Entwicklungspotenziale der Herkunftsländer schwächt. Stattdessen Beteiligung an Ausbildungskosten / -programmen.

Grundsatz 2: „Fairer“ Wettbewerb der einzelnen EU- Nationalstaaten muss reguliert werden:

  • im Bereich der Arbeitsmigration gilt der Grundsatz gleichen Lohnes für gleiche Arbeit als Prinzip; die Entsenderichtlinie (Einsatz von Angestellten ausländischer Firmen zu ausländischen Bedingungen) wird abgeschafft / reformiert;

Grundsatz 3: Nationalstaatliche Regulation der sozialen Beziehungen zwingt Unternehmen, aber auch die Lohnabhängigen, sich an gesetzte Regeln zu halten

  • in Bezug auf die EU- Binnenmigration: Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit (unter dem Vorbehalt des Einhaltens inländischer Standards), Ende der Anwerbung von Fachkräften aus Nicht-EU- Ländern

  • in Bezug auf das Asylrecht: Auslagerung der Asylverfahren an die EU- Außengrenzen.
    Verschärfung des Asylrechtes; mit der Begründung, dass weder die Auswanderung in den allermeisten Fällen freiwillig erfolgt, noch der Weg der Wanderung frei von äußeren Zwängen ist, diese viel Geld kostet, Flüchtlinge Zwang und Ausbeutung unterworfen sind, wird die Bekämpfung von „Schleuserbanden“ gefordert

  • Basis der Demokratie und der Sozialpolitik ist das Staatsbürgerrecht der Nationalstaaten; die EU bleibt ein Zusammenschluss von Nationalstaaten, die sich die Aufgabe stellt, die sozialen Bedingen in den einzelnen Nationalstaaten anzugleichen; daraus ergibt sich auch eine Verpflichtung des Einzelnen, sich den Gesetzen und Gepflogenheiten des jeweiligen Nationalstaates unterzuordnen (Polemik gegen „Parallelgesellschaften“). Auch etwa die Arbeitserlaubnis / Anerkennung von Qualifikationen wird unter den Vorbehalt der nationalen Regelungen und Standards gestellt, um ein Unterlaufen dieser Standards zu verhindern.

zu 2: Was sagt die Linkspartei zur Migration?

Auch die Linkspartei tritt zu Wahlen an und strebt Regierungsbeteiligung und Einfluss in staatlichen Institutionen an. Aus dem Wahlprogramm von 100 (!) Seiten kann man grob herausdestillieren, dass die Linkspartei auf das Konzept einer überstaatlichen „Zivilgesellschaft“ setzt. Sie vermeidet eine Bestimmung institutioneller (auf Staatsbürgerschaft beruhender), demokratischer und sozialer Rechte. Stattdessen ersetzt sie diese einklagbaren Rechte durch die geforderte Anerkennung eines bunten Straußes zivilgesellschaftlicher Initiativen als Trägerinnen „demokratischer Prozesse“.
Zur Finanzierung fordert sie, dass die EU als Ganzes unbegrenzt Schulden aufnehmen kann und sie will die Steuern auf Vermögen und große Einkommen erhöhen. Mit diesen Schulden und Steuereinnahmen will sie unter der Aufsicht von Gewerkschaften und Initiativen ökologische und soziale Projekte finanzieren. Ökonomisch setzt sie auf die Stärkung genossenschaftlicher Strukturen durch die „öffentliche Hand“ (d.h., durch die EU). Sie tritt für offene Grenzen und demokratische Rechte nicht auf der Basis von Staatsbürgerschaft, sondern auf der Basis des Wohnortes ein.

zu 3: Kritik der Realpolitik

  1. BSW: Sie vertritt eine klassische sozialdemokratische Position auf der Basis von nach Innen und nach Außen souveränen Nationalstaaten. Es sieht die EU (wie auch andere internationale Einrichtungen) als eine Institution, durch die die Zusammenarbeit und die Konkurrenz zwischen den Nationalstaaten fairer und friedvoller gestaltet werden sollte.
    Es zielt nicht auf eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft, sondern auf die Förderung des „innovativen Mittel
    standes“ und der „leistungsfähigen Mittelschichten“ als die Kerne der Gesellschaft.
    Das Staatsbürgerr
    echt ist nicht ethnisch, rassisch o.ä. definiert, sondern ergibt sich aus dem Lebens- und Arbeitsmittelpunkt (wie genau der Erwerb der Staatsbürgerschaft geregelt werden soll, wird nicht ausbuchstabiert).
    Aus dem Staatsbürger
    recht ergibt sich auch eine –pflicht.
    Und, die Staatsbürgerschaft schließt ein, schließt aber auch grundsätzlich aus. Mit der Konsequenz, Grenzen zu schließen und das Aufenthaltsrecht zu beschränken.

Das BSW negiert die Dynamik des Kapitalismus allgemein und der EU als Zusammenschluss kapitalistisch organisierter Staaten; die EU funktioniert als Ganzes darüber, dass sie um sich herum (durch Zwang zur Privatisierung und Abbau öffentlicher Infrastruktur) Armutszonen schafft, aus denen die Menschen notgedrungen als Arbeitskräfte hierhin kommen. Durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit hat in langen Jahren z.T. ein Angleichungsprozess in Osteuropa stattgefunden. Wenn sich Länder wie Polen nach Jahrzehnten halbwegs angeglichen haben, zieht die Karawane weiter – deshalb Ukraine, deshalb Moldawien, Albanien, Georgien usw. Länder wie Griechenland wären nochmal eine gesonderte Betrachtung wert: Dort hat sich bis zu einem bestimmten Punkt der Lebensstandard angeglichen – dann wurde das Land nach 2010 wieder in Armut gestoßen. Zu dem Prozess der durchschnittlichen Angleichung insgesamt gehört aber auch eine innere soziale Polarisierung aller Länder der EU.
Lässt sich diese kapitalistische Tendenz durch eine Stärkung nationalstaatlicher Souveränität aufhalten oder sogar umkehren?

Das BSW negiert die Fähigkeiten des Kapitals, zu seinem Interesse Migration zu organisieren; Abschottung und Regulierung schafft unterschiedliche Kategorien von „Arbeitskräften“.
Das Unterlaufen der Abschottung nach Außen ist nur zum Teil „selbstorganisiert“ oder von gutmeinenden NGOs organisiert. Das BSW fokussiert an dieser Stelle allein auf die Rolle von kommerziellen „Schleppern“. Sie dürfte in ihrer Polemik damit Recht haben, dass die Übergänge zwischen Selbstorganisation, NGOs und „Schleppern“ (wenn man den Begriff gebrauchen will) oftmals fließend sind. An dieser Stelle kann man einwenden, dass die Erhöhung des Drucks durch mehr Polizeikontrollen nur dazu führt, dass der Einsatz für „Schlepper“ steigt und die Kommerzialisierung vorangetrieben wird.
Die Verlagerung der Asylverfahren an die EU- Außengrenzen wird das nur verlagern, nicht verhindern. Selbst wenn „menschenwürdige Lebensbedingungen“ (was auch immer das heißen soll…) in den angedachten Asylzentren in z.B. Nordafrika geschaffen würden – dann wird eben der Zugang zu denen erschwert und letztendlich teurer gemacht.
Dazu kommt, dass ein weiterer bedeutsamer Weg, in die EU zu kommen, über den Erwerb von Staatsbürgerschaften führt; die Entdeckung von „Minderheiten“ außerhalb des eigenen Nationalstaates hat viel damit zu tun, billige Arbeitskräfte ins Land zu holen. So hat Polen Ukrainer eingebürgert, Rumänien ebenfalls Ukrainer und Moldawier, Ungarn wiederum Ukrainer usw. Das Ganze ist oft mit Korruption verbunden. Ein dritter Weg ist die Vergabe von EU- Visa durch einzelne Staaten. (s. kürzlichen Skandal in Polen um die Erteilung von tausenden Schengen- Visa an Arbeiter aus Asien und Afrika – auch da war Korruption im Spiel, aber auch eine politische Vorgabe, neue und billige Arbeitskräfte ins Land zu holen.
Die reale Politik zeigt diese Widersprüche: In Großbritannien war die Bewegung für den Brexit maßgeblich davon getragen, die Lohnkonkurrenz durch Arbeiter aus der EU abzuwehren. Heute: Es gibt doppelt so viele Einwanderer wie vor dem Brexit (lt. Bundeszentrale für Politische Bildung). Diese kommen nicht mehr aus der EU, sondern über erleichterte Zugangsbestimmungen (Senkung von beruflichen Anforderungen etc.) aus Drittländern. Ähnlich Italien: Unter der rechten Regierung von Meloni ist die Migration nicht weniger geworden – es sind nur die Bedingungen für alle, Italiener und Einwanderer, härter geworden, Sozialleistungen gestrichen etc.

  1. Linkspartei
    Während das BSW eine klare politische Orientierung hat, fällt es schwer, das bei der Linkspartei zu erkennen.
    Das „Konzept“ der Linkspartei schließt an das liberalistische Konzept der Grünen an.
    Das Konzept „Offene Grenzen“ negiert a) demokratische Institutionen: Wenn ich überall, wo ich gerade bin, wählen / mich wählen lassen kann, wird die Wahl komplett zufällig (verliere ich mein Wahlrecht in der Heimat, sobald ich die Landesgrenzen überschreite? Was ist mit den „digitalen Nomaden“, die mit ihren Zweitwohnungen die Immobilienpreise in Portugal hochtreiben? Dürfen die überall wählen? Oder dürfen alle überall wählen? Usw.).
    Es negiert b) auch die Verfassung der aus den Löhnen finanzierten Sozialsysteme, die an die Löhne in einzelnen Ländern gekoppelt sind; die EU- Binnenmigration wird von der Linken gar nicht erwähnt. Eine dauerhafte Einwanderung und Integration entspräche der Funktionsweise der Sozialsysteme. Eine temporäre oder saisonale Arbeit, wie sie im Rahmen der EU weit verbreitet ist, steht ihr entgegen. Ebenso der Transfer steuerfinanzierter staatlicher Sozialleistungen innerhalb der EU (wie bspw. Kindergeld aus Deutschland für Kinder, die im Ausland leben, das Überleben mit so niedrigen Einkommen ermöglicht, wie es für Menschen, deren Familien hier leben, nicht möglich wäre).
    Die Linkspartei könnte nun fordern, statt einzelner nationaler Sozialsysteme ein einheitliches europäisches Krankenkassen-, Renten- und Arbeitslosenunterstützungssystem zu schaffen; die Abgrenzung nach Außen bliebe allerdings erhalten.
    Konsequent umgesetzt, hätten „Offene Grenzen“ dagegen die Abschaffung der bisherigen Sozialsysteme zur Folge. Die Linkspartei könnte nun fordern, diesen Schritt zu vollziehen und durch ein System kostenloser öffentlicher Infrastruktur für alle, die gerade da sind, zu ersetzen. Wenn sie das nicht macht, geht sie den grünen Weg mit, die
    Ansprüche auf Sozialleistungen durch die Forderung nach Wohltätigkeit (vermittelt durch Stiftungen und NGOs) zu ersetzen.
    Welchen Effekt eine solche Politik allerdings hätte, kann man sich vorstellen.
    Die Linkspartei setzt auch hinsichtlich der Verhinderung eines „Lohndumpings“ durch Migration statt auf eine Regulation durch den Staates auf die Kraft der „Zivilgesellschaft“, vertreten durch Gewerkschaften, Beratungsstellen, NGOs und Stiftungen. Selbsttätigkeit und Selbstorganisation sind wichtig, aber keine Selbstorganisation bleibt unabhängig, sobald sie sich verstetigt. Die meisten Kampagnen gedeihen in einem Milieu, das aus Stiftungsgeldern und staatlichen Zuschüssen gespeist wird.
    Die Linkspartei will beides sein: Zum einen ein Sammelbecken für alle möglichen „Bewegungen“, die ihre jeweiligen Ansprüche formulieren. Ansprüche, die sich teilweise entgegenstehen und deren Adressat oftmals unklar ist (der Nationalstaat? die EU? die Unternehmen? Teile der Bevölkerung, denen materieller Verzicht zugunsten anderer Gruppen verordnet wird?). Was ist die Gemeinsamkeit all dieser verschiedenen „Bewegungen“? Ein diffuses Selbstverständnis, dass man eine bessere Welt will. Eine Rechenschaftspflicht irgendwem gegenüber gibt es für diese Bewegungen nicht.
    Gleichzeitig will die Linkspartei Regierungsgewalt übernehmen (hat sie auf Bundesländerebene ja auch). Wie passt das zusammen?

zu 4: Ausweg?

Ist ein „realpolitischer“ Ausweg aus dem kapitalistischen Dilemma denkbar? Die Antwort dürfte „nein“ lauten.

Ein sozialdemokratisches Modell, wie wohlmeinend es auch gedacht wird, verwaltet nur die Widersprüche einer kapitalistischen Gesellschaft und – sobald Regierungsprogramm – bedeutet das die Anwendung von Zwang, auch nach Unten. Eine u.U. populistische Wahlkampfrhetorik ist hässlich, aber sie folgt einer Logik.

Ein „zivilgesellschaftliches“ Modell tut das auch, nur versteckter. Es negiert, dass es in einer gespaltenen Welt unterschiedliche Interessen gibt und ersetzt das Aushandeln verschiedener Interessen durch einen willkürlichen moralischen Anspruch, der mit Gewalt der Staaten und der Unternehmen durchgesetzt wird: Wenn etwa Menschen ihren Anspruch formulieren, nicht zu pharmakologischer Behandlung gezwungen zu werden, ist das illegitim und wird unterdrückt. Wenn Migranten ihre Ansprüche als schon lange hier lebende lohnabhängige Menschen formulieren, ist auch das illegitim und sie werden als „rechts“ verortet (wie die Einwanderer aus Russland oder der Türkei als größte Einwanderergruppen). Ja, Vorbehalte gegen die Migrationspolitik werden nicht nur von „so gelesenen“ 😊 „Biodeutschen“ geäußert, sondern auch von „integrierten“ Einwanderern.

Zudem wird ignoriert, dass in unserer Welt immer mehr innere Grenzen entstehen; die „Grenze“ wird allein als äußere Grenze eines Nationalstaates oder eines Zusammenschlusses wie der EU definiert. Tatsächlich erleben wir immer ausgeprägtere innere Grenzziehungen: von Sonderwirtschaftszonen über die mit dem Corona- Lockdown vollzogenen temporären regionalen Grenzen, „Gated Communities“, Betriebsgelände bis hin zu Krankenhäusern, denen die Ausübung eigentlicher hoheitlicher „Rechte“ zugesprochen werden usw.

Man muss sich die Widersprüchlichkeit einer Linken klarmachen, die in ihrer Argumentation zwar auf der einen Seite „Offene Grenzen“ fordert, aber auf der anderen Seite (wie noch keine Linke vor ihr), im Inneren für „(Brand-)Mauern“, Grenzziehungen und Ausschluss postuliert; die in „ihren“ eigenen Räumlichkeiten (Impf-)Passkontrollen vorgenommen hat u.a.. Der Unterschied zu einer (wichtigen!) inhaltlichen Auseinandersetzung ist die Beanspruchung von staatlicher und betrieblicher Macht, über den Dissenz gelöst, bzw. unterdrückt werden soll.
Nach Außen ist sie mehrheitlich für Waffenproduktion und -lieferung an …die syrischen Kurden, an die Milizen in der Ukraine, für die Bundeswehr in Afghanistan, gleichzeitig will sie alle Menschen, die es bis hierhin schaffen, aufnehmen / -lassen. Aber durchaus auch abschieben lassen, wenn diese ihren moralischen Ansprüchen nicht entsprechen.

Was macht es uns so schwer, quer zu diesen beiden Position eine Linie zu finden?
Das BSW hat recht, wenn es sowohl die Fluchtursachen in den Fokus nimmt, als auch versucht, die Interessen der hier lebenden Menschen zu thematisieren. Sie liegt aber moralisch und politisch falsch, wenn es die Probleme über staatliche Gewalt lösen will.

Die „Linken“ haben in aller Allgemeinheit moralisch an dem Punkt recht, wenn sie einfordern, niemanden „alleine zu lassen“. Aber ansonsten fehlt es an einer politischen Einschätzung und stringenten Argumentation.

Vielleicht ist das, was uns verwirrt, auch die im Vergleich zu den Jahrzehnten der Nachkriegszeit bis in die 80er Jahre neuartige Konstellation. Die Integration der sog. Vertriebenen nach 1945 war ein sehr langer Prozess. Sie ist von vielen Konflikten begleitet gewesen. Sie war davon geprägt, dass die Menschen die Perspektive hatten, hier dauerhaft zu leben, ob sie wollten oder nicht.
Die Perspektive der angeworbenen „Gastarbeiter“ ab Ende der 50er Jahre war zunächst eine vorübergehende. Und es waren Arbeiter und Arbeiterinnen, die ohne Familie kamen. Sie haben zum einen die Sozialsysteme unterstützt, weil sie eher zurückgegangen sind, anstatt Leistungen zu beziehen. Sie haben den Einheimischen tendenziell einen gewissen Aufstieg ermöglicht, indem sie die schlecht bezahlten Arbeitsplätzen eingenommen haben. Ihre großen Kämpfe fanden ab 1973 statt, als sie durch den Anwerbestopp die Entscheidung treffen mussten, hierzubleiben oder zu gehen. In den 70er Jahren ist aber auch für alle die schulische, berufliche und akademische Bildung deutlich ausgebaut worden und die Eingruppierungen in den Tarifverträge daran gekoppelt worden.

In der Krise um 1980 und in der Phase der Massenentlassungen z.B. in der Stahlindustrie wurden sie von oben als Menschen drangsaliert, die ihr „Gastrecht“ nun endgültig aufgebraucht und mitsamt ihren mittlerweile nachgezogenen Familien gefälligst zu gehen hätten.

Der Zusammenbruch des Ostblocks 1989 / 90 hat eine völlig andere Konstellation hervorgerufen: In der ehemaligen DDR wurde den Menschen auf allen Ebenen der Boden unter den Füßen weggezogen, während gleichzeitig eine Masseneinwanderung aus vielen Staaten des Ostblocks einsetzte. Die mafiöse Plünderung des staatlichen Volksvermögens geschah ohne das Zutun der Einwanderer – sie kamen ja aufgrund gleicher Prozesse in ihren Heimatländern. Aber sie waren eine greifbare Verhandlungsmasse.
Die Menschen, die kamen, waren nicht unbedingt Arbeiter und Arbeiterinnen; aus der ehemaligen SU kamen ganze Familien, Kinder, Rentner. Sie kamen, um hier dauerhaft zu leben. Auch ihre Integration hat Jahrzehnte gedauert. Es gab viele Konflikte, auch mit den alteingesessenen Migranten. Von deutsch- linker Seite wurden sie aufgrund ihrer deutschen Staatsangehörigkeit als „deutsch-nationalistisch“ stigmatisiert.

Die EU hat seit Mitte der 90er Jahre lange Zeit vor allem eine temporäre Binnenmigration hervorgerufen. Deutschland wurde mit der billigen Arbeit osteuropäischer WanderarbeiterInnen „Exportweltmeister“.

Seit 2015 wiederum wiederholt sich gewissermaßen das Spiel von 1990: Die Öffentliche soziale Infrastruktur wird unter Verweis auf Finanzkrise und Schuldenbremse massiv geplündert, privatisiert und abgebaut. Gleichzeitig wird von Oben „Weltoffenheit“ und Einwanderung propagiert. Es drohen sich, die Fehler der 90er Jahre zu wiederholen: Statt die sozialen Konflikte, die u.a. durch außenpolitisches Agieren hervorgerufen werden, in den Mittelpunkt zu stellen, wird von der einen Seite die „Einwanderung“ zum zentralen Problem erhoben und von der anderen Seite den Menschen Verzicht im Namen der allgemeinen Moral gepredigt.

Eine gerechte und gleichberechtigte Welt wünschen wir uns auch. Aber sie wird nicht durch das Formulieren willkürlicher und disparater Ansprüche entstehen. Sie erfordert eine Revolution, eine Umwälzung der Produktionsverhältnisse und eine Neuentwicklung „politischer“ (im Sinne von gesellschaftlicher) Organisation. Und das auf globaler Ebene.

Eine solche Umwälzung erfordert zunächst eine reale „Bewegung“; das, was heute „soziale Bewegung“ genannt wird, sind zumeist organisierte, bezahlte und homogenisierte Kampagnen. Bewegungen sind erstmal heterogen: Menschen mit unterschiedlichen Interessen setzen sich miteinander auseinander und bewegen sich.

Uns in Bewegungen auseinanderzusetzen (statt alles, was uns nicht passt, auszuschließen), müssen wir wieder lernen.

Wir müssen vor allem wieder lernen, den sozialen Kern politischer Auseinandersetzungen zu erkennen. Eine Politik, in der die „Soziale Frage“ (oder besser: Klassenfrage) anstatt der „Migrationsfrage“ in den Mittelpunkt gestellt wird – gegen die Propaganda der „Rechten“ wie der staatsnahen „Linken“ und Liberalen. In dem Zusammenhang ein Hinweis auf die USA: In Kalifornien, dem „grünen Vorzeigestaat“ ist unter den liberalen Gouverneuren die Armut explodiert, gerade auch unter den „Schwarzen“. Ihre Jobs werden teilweise von Einwanderern aus Mittel- und Südamerika übernommen, die mit großem Getöse von den Demokraten „willkommen geheißen“ werden (stimmt so natürlich auch nicht, eine freie Einwanderung gibt es auch unter den Demokraten nicht. Aber es wird medienwirksam so inszeniert).

Es gibt Gruppen und Initiativen, die ein Ausweg darin suchen, eine Politik zu entwickeln, die…

a) …auf lokaler Ebene wurzelt, die darauf zielt, Menschen an ihrem Wohnort zu unterstützen (auf jeweils u.U. unterschiedliche Art – parlamentarisch, organisierend,…)

b) …die die „großen“ politischen Fragen ausklammert

c) …die keine Regierungsverantwortung anstrebt, schon gar nicht auf Bundesebene – dort, wo die Rahmenbedingungen entschieden werden

Können wir uns mit solch einer Politik, wie sie von „Solidarisch Gröpelingen“ in Bremen oder der KPÖ in Graz vertreten wird, anfreunden? Oder läuft man da in die Falle sozialarbeiterischen Engagements? Wo bleibt dort die politische Perspektive jenseits von einer Organisation und Unterstützung im Alltag?

Oder fokussieren wir uns darauf, den Staat und die Unternehmen in die Pflicht zu nehmen, die Bedingungen, unter denen Einwanderer und Einheimische leben, lernen und arbeiten müssen, zu verbessern?

Oder orientieren wir uns auf eine Politik, die allein gegen die herrschende Politik argumentiert; gegen …äußere Grenzen – aber auch alle inneren; …gegen jeden Krieg, der von hier aus geführt und befeuert wird; …gegen Militarisierung,,, – ohne daraus vermeintlich realpolitische Forderungen wie „Staatsbürgerrechte für alle!“ abzuleiten?

unfertige Gedanken nicht vom, sondern aus dem
Jour Fixe Gewerkschaftslinke Hamburg, 13.August 2024


V. Ausschnitte aus den Wahlprogrammen des BSW und der Linkspartei

Im Parteiprogramm des BSW (vier Seiten) ein einziger Absatz:

Zuwanderung und das Miteinander unterschiedlicher Kulturen können eine Bereicherung sein. Das gilt aber nur, solange der Zuzug auf eine Größenordnung begrenzt bleibt, die unser Land und seine Infrastruktur nicht überfordert, und sofern Integration aktiv gefördert wird und gelingt. Wir wissen: Den Preis für verschärfte Konkurrenz um bezahlbaren Wohnraum, um Jobs mit niedrigen Löhnen und für eine misslungene Integration zahlen in erster Linie diejenigen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Wer in seiner Heimat politisch verfolgt wird, hat Anspruch auf Asyl. Aber Migration ist nicht die Lösung für das Problem der Armut auf unserer Welt. Stattdessen brauchen wir faire Weltwirtschaftsbeziehungen und eine Politik, die sich um mehr Perspektiven in den Heimatländern bemüht.

Im Programm für die Europawahl (20 Seiten) ein paar mehr Absätze:

Einwanderung in die EU:

Wir wollen die unkontrollierte Migration in die EU stoppen, den Schlepperbanden das Handwerk legen und in den Heimatländern Perspektiven schaffen. Es darf nicht kriminellen Schlepperbanden überlassen werden, wer Zugang zur EU bekommt: Die Asyl- und Prüfverfahren zum Schutzstatus sollten daher an den EU-Außengrenzen oder in Drittländern erfolgen. Dabei ist auf menschenwürdige Bedingungen insbesondere für Kinder zu achten. Wer dort keinen Schutzstatus erhält, hat auch keinen Anspruch auf Zugang zur EU, eine Arbeitserlaubnis oder soziale Leistungen, wie z. B. Bürgergeld, in einem EU-Mitgliedstaat. Zugleich steht die EU in der Verantwortung, die Ursachen für Flucht und Migration bekämpfen zu helfen.

Binnenmigration innerhalb der EU:

Soziale Grundrechte und sozialer Fortschritt werden den wirtschaftlichen Binnenmarktfreiheiten untergeordnet. Das Ergebnis dieser Politik sind: schlechtere Löhne, prekäre Beschäftigung, Abbau gewerkschaftlicher Rechte und schwindende Tarifbindung, Armut, (Jugend-) Arbeitslosigkeit und wachsende Ungleichheit. Verstärkt wird dies durch die Folgen der Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der EU und durch Modelle der Arbeitnehmerentsendung. Unternehmen nutzen das Sozial- und Lohngefälle innerhalb der EU, um billige Arbeitskräfte aus den ärmeren Ländern in die Hochlohnländer zu holen. Das setzt hiesige Belegschaften unter Druck.

Wir wollen ein Europa, in dem der Zerfall des gesellschaftlichen Zusammenhalts gestoppt und die Politik wieder am Gemeinwohl ausgerichtet wird. Dafür brauchen wir eine leistungsfähige öffentliche Daseinsvorsorge und deutlich mehr Investitionen in Bildung, Gesundheit und Wohnen. Arbeitnehmer aus verschiedenen EU-Ländern dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden: Das Prinzip gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort ist dafür unverzichtbar, weil es hiesige Belegschaften vor Dumping und Arbeitsmigranten vor Ausbeutung schützt.“

„Sozialen Fortschritt statt Sozialdumping: In den EU-Verträgen muss eine soziale Fortschrittsklausel verankert werden, die den Vorrang der sozialen Grundrechte vor den Binnenmarktfreiheiten (Waren, Arbeitskräfte, Dienstleistungen und Kapital) festschreibt. Die Fortschrittsklausel sichert nationale Handlungsspielräume in der Arbeits- und Sozialpolitik und gibt den Mitgliedstaaten Rechtssicherheit.

Faire Arbeitsbedingungen und Löhne. Spätestens bis Ende 2024 muss die EU- Mindestlohn- Richtlinie umgesetzt sein:

Mindestlöhne sollen mindestens 60 Prozent des Medianlohns von Vollzeitbeschäftigten erreichen. Dies würde in Deutschland einem Mindestlohn von 14 Euro entsprechen – und erfordern, dass der Mindestlohn hierzulande angehoben wird. Folgen muss eine Verschärfung der Entsenderichtlinie zur Sicherstellung gerechter Lohnzahlungen und gleicher Arbeitsbedingungen zwischen dem entsendenden und Unternehmen im Aufnahmeland.“

„Für eine EU-Politik, die die illegale Migration stoppt und Perspektiven in den Heimatländern vergrößert

Krieg, Gewalt und politische Verfolgung sind eine schreckliche Realität in vielen Ländern. Für uns ist klar: Menschen, die aus politischen, religiösen oder anderen Gründen verfolgt werden und deshalb aus ihrer Heimat fliehen müssen, haben ein Recht auf Asyl. Auch Menschen, die vor kriegerischer oder gruppenbezogener Gewalt fliehen müssen, brauchen Hilfe und eine sichere Zuflucht, am besten möglichst nahe an ihren Heimatländern. Nach Angaben des Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) wächst die Zahl der Schutzsuchenden stetig. 2022 waren weltweit 108,4 Mio. Menschen auf der Flucht. Auch die EU ist mit einem massiven Anstieg von Flüchtlingen und Zuwanderern konfrontiert. Zehntausende Menschen sind auf den gefährlichen Fluchtwegen vor allem über das Mittelmeer gestorben, weil sie von Schlepperorganisationen mit seeuntauglichen Booten transportiert oder anderen lebensgefährlichen Situationen ausgesetzt wurden.

So verständlich es ist, dass Menschen in Europa einen Ausweg aus Armut, Unterentwicklung und ökonomischer Misere suchen, so klar ist auch, dass Migration nicht die Lösung für das Problem von Armut und Ungleichheit in der Welt ist. Auch wenn es einigen Menschen, dadurch gelingt ihre Lebensumstände zu verbessern, gilt dies nicht für die Mehrzahl der Menschen. Insbesondere die Ärmsten, die Hunger leiden und nicht über die Mittel der gefährlichen Flucht verfügen, schaffen es zumeist gar nicht erst nach Europa. Selbst wenn alle Bewohner der Slums und Armenviertel dieser Welt fliehen könnten, wäre die Armut zwar woanders, aber nicht weg. Es gibt auch ein Recht nicht fliehen zu müssen und eine Pflicht dieser Staaten, das ihren Bürgern zu garantieren.

Wir brauchen mehr Ehrlichkeit in der Debatte: Zuwanderung und das Miteinander unterschiedlicher Kulturen können eine Bereicherung für die Zielländer sein. Das gilt aber nur, solange die Kapazitäten vor Ort nicht überfordert werden und Integration gelingt. In Frankreich und anderen Ländern, etwas schwächer ausgeprägt auch in Deutschland sind in den zurückliegenden Jahren durch eine völlig verfehlte Einwanderungspolitik islamistisch geprägte Parallelgesellschaften entstanden, in denen Recht und Gesetz nur noch eingeschränkt gelten, die Scharia gepredigt wird und Kinder im Hass auf die westliche Kultur aufwachsen. Betroffen von den vielen mit fehlgeschlagener Integration verbundenen Problemen sind nicht die teuren Altbaubezirke der Großstädte oder die Villenviertel, sondern die ärmeren Stadtbezirke in den Ballungsräumen, in denen Wohnungen, Schulen und Infrastruktur meist ohnehin in keinem guten Zustand sind. Seit Jahren wird in der EU über eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) geschachert, ohne wirklich greifbare Ergebnisse zu erzielen: weder im Sinne einer deutlichen Reduzierung der Zahl der in die EU kommenden Migranten noch einer solidarischen Lastenteilung. Wir fordern eine grundlegende Reform der Flüchtlings- und Migrationspolitik.

Was wir wollen:

Es darf nicht länger kriminellen Schleppernetzwerken überlassen werden, wer Zugang zur EU bekommt: Rechtsstaatliche Asylverfahren an den Außengrenzen und in Drittstaaten wären der sicherste Weg, denjenigen, die wirklich Schutz benötigen, den Weg in die EU zu öffnen, auch wenn sie die finanziellen Mittel zur Bezahlung der Schlepper nicht aufbringen können, und all denjenigen, die kein Recht auf Asyl und daher eine Bleibeperspektive haben, den lebensgefährlichen und teuren Weg zu ersparen.

Flucht- und Migrationsursachen reduzieren:

Als Ergänzung einer restriktiven Migrationspolitik muss die EU die Ursachen für Flucht und Migration bekämpfen. Dies erfordert eine Neuausrichtung ihrer Außen-, Wirtschafts- und Handels- und Entwicklungspolitik, um die Bedingungen für wirtschaftliche Entwicklung in den Ländern des Südens zu verbessern.

Außerdem kann und muss die EU ihre politischen Anstrengungen erhöhen, gemeinsam mit der UNO, mit Regionalorganisationen oder auch bilateral, Kriege und Konflikte diplomatisch zu lösen. Hierzu gehört auch, dass aus der EU keine Waffen in Krisengebiete mehr exportiert werden dürfen und EU-Länder sich nicht mehr an Interventionskriegen beteiligen. Es ist kein Zufall, dass besonders viele Zuwanderer heute aus Ländern kommen, die durch westliche Kriege und Regime-Change-Versuche verwüstet wurden: Afghanistan, Irak und Syrien. Auch aus diesem Grund lehnen wir völkerrechtswidrige Militärinterventionen ab, die zu einer Hauptursache für Flucht, Vertreibung und Migration geworden sind. Der Krieg in der Ukraine, der ebenfalls eine große Fluchtbewegung verursacht hat, wurde militärisch von Russland begonnen, aber er wäre vom Westen verhinderbar gewesen und hätte längst beendet werden können.

Hierzu gehört auch, dass Deutschland und andere EU-Staaten ihre Anwerbeprogramme in Ländern des Globalen Südens einstellen, mit denen sie gut ausgebildete Fachkräfte nach Europa holen. Mit dieser Politik fördert die EU systematisch einen Brain Drain aus den Herkunftsländern und entzieht ihnen genau die Leistungsträger, die vor Ort für die wirtschaftliche Entwicklung gebraucht werden. Der Fachkräftemangel in der EU muss primär durch verbesserte Ausbildung und angemessene Löhne behoben werden.

Gleichwohl sollten wir über internationale Partnerschaften einen Beitrag zur Qualifizierung und Ausbildung von Menschen aus ärmeren Ländern schaffen. Im Rahmen von begrenzten Kontingenten müssen Menschen besser unterstützt werden, die bereits einen Arbeitsvertrag und eine sichere finanzielle Perspektive haben. Zuwanderer, die durch Spracherwerb und Arbeit bereits über längere Zeiträume gut integriert sind, brauchen verlässliche Perspektiven. Wir sollten nicht ausgerechnet jenen Menschen Knüppel zwischen die Beine werfen, die sich angestrengt haben.

Das menschenverachtende Schlepperwesen muss konsequent bekämpft werden. Dazu muss sowohl die Kooperation zwischen den EU-Mitgliedstaaten als auch mit Drittstaaten verbessert und ausgebaut werden.

Die Zahlen des UNHCR belegen, dass die große Mehrheit der durch Krieg und Gewalt Vertriebenen als Binnenflüchtlinge oder in einem direkten Nachbarstaat Zuflucht sucht, da sie die hohen Summen für Schlepperbanden nicht bezahlen können. Die EU-Staaten stehen in der Pflicht, Organisationen wie das UNHCR und andere humanitäre Organisationen finanziell besser auszustatten, damit sie den Menschen vor Ort effektiv Hilfe und Schutz bieten können. Geld, das in den betroffenen Ländern für Flüchtlinge und zur Vermeidung von Fluchtursachen ausgegeben wird, schützt ein Vielfaches an Menschenleben und ist weitaus effektiver als die teure Aufnahme in der EU.“

Aus dem Programm der Linkspartei zur Europawahl (insgesamt 100 Seiten):

Die Grenzen der Demokratie: Keine Festung Europa

Seit 2014 sind fast 30 000 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Diese schreckliche Bilanz europäischer Abschottungspolitik muss zu einer grundlegenden Änderung der EU-Asylpolitik führen. Wir stehen für eine EU, die Menschen auf der Flucht sicheren Schutz bietet, die keine Deals mit Diktator*innen macht, die Krieg als Mittel der Politik ächtet. Die endlich verhindert, dass Zehntausende im Mittelmeer ertrinken. Flucht ist kein Verbrechen! In ihren Verträgen hat die EU sich verpflichtet, die Genfer Flüchtlingskonvention einzuhalten. Täglich verstößt sie dagegen: Schutzsuchende werden an den EU-Außengrenzen misshandelt und rechtswidrig zurückgeschoben. Im Juni 2023 sind vor Pylos mehr als 500 Menschen infolge eines Abdrängversuchs der griechischen Küstenwache gestorben. Auch hinter dem meterhohen Grenzzaun an der polnisch-belarussischen Grenze sterben regelmäßig Schutzsuchende in Frost und Schlamm, zum Teil nach rechtswidriger Zurückweisung durch Polen. Dennoch leitete die EU-Kommission kein Vertragsverletzungsverfahren gegen rechtswidrige Pushbacks ein. Diese tödliche Kumpanei der Abschottung muss enden! Die Grenzschutzagentur Frontex war zumindest indirekt an Pushbacks beteiligt oder vertuscht sie. Das internationale Seerecht verpflichtet zur Rettung von Menschen in Not auf dem Meer, sie dürfen auch nicht in unsichere Länder wie Libyen zurückverbracht werden. Die Linke steht für eine solidarische und humane Migrations- und Asylpolitik, die die Genfer Flüchtlingskonvention, die Europäische Menschenrechtskonvention und insgesamt die Menschenrechte und die Humanität zum Maßstab ihres Handelns nimmt.

Rechte Parteien schüren die Angst, dass Migration den Wohlstand bedrohe. Doch Wohlstand und soziale Sicherheit werden bedroht, weil Grenzen für Konzerne und Banken viel durchlässiger sind als für Menschen, die vor Krieg und Elend fliehen.

Gegen die ganz große Koalition der Abschottung, die uns mehr Zäune und Mauern als Lösungen verkaufen wollen und Zehntausende Tote in Kauf nehmen, zielen wir auf eine Gesellschaft ohne Abschottung.

Menschen retten: Legale Fluchtwege

Die EU hat erst mit der Türkei und jetzt mit Tunesien ein umfassendes Partnerschaftsabkommen geschlossen, das die Abwehr von Geflüchteten an den EU-Außengrenzen im Gegenzug für Investitionen vorsieht. Vier Monate zuvor hatte das Europäische Parlament die vielfältigen Menschenrechtsverletzungen in Tunesien kritisiert: Das Parlament war ausgesetzt, Journalist*innen, Richter*innen und Gewerkschafter*innen wurden willkürlich inhaftiert. Jetzt erhält Tunesien von der EU 1,5 Milliarden Euro. Das ist ein Skandal.

In den Lagern an den EU-Außengrenzen herrschen inhumane Zustände. Grenz- und Lagerbewachung werden hochgerüstet. Regelmäßig kommt es zu Menschenrechtsverletzungen, Folter, Verschleppung und Vergewaltigung.

Eine Vorverlagerung der Grenzabwehr, sei es in Afrika oder sonst wo, lehnen wir ab. Keine Deals mit Diktaturen!

Seebrücken und Fähren statt Frontex! Frontex muss umgewandelt werden in eine europäische Rettungsmission.

Wir fordern einen effektiven und ausfinanzierten Überwachungsmechanismus gegen Pushbacks und Menschenrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen.

Seenotrettung ist nicht nur legal, sie ist nach dem internationalen Seerecht Pflicht.

Es braucht eine EU-finanzierte Seenotrettungsmission, um das Massensterben auf dem Mittelmeer zu beenden und die Ausschiffung in einen sicheren Hafen in der EU zu gewährleisten.

Da die EU dieser Pflicht nicht nachkommt, versucht die Zivilgesellschaft, diese Lücke zu schließen. Dieses Engagement muss gewürdigt und unterstützt werden, statt es zu kriminalisieren. Zivile Seenotrettung darf nicht unter Strafe gestellt oder systematisch behindert werden.

Wir benötigen sichere Fluchtwege für Geflüchtete in die EU, humanitäre Visa zur legalen Einreise und/oder die Aufhebung des Visumzwangs für Schutzsuchende.

Aufnahmeregelungen für Schutzbedürftige müssen ausgeweitet werden, etwa auch über das Resettlement-Programm des UNHCR.

Armuts-, Umwelt- und Klimaflüchtlinge müssen verbindliche Flüchtlingsrechte bekommen. Niemand flieht freiwillig!

Grenzkontrollen im Schengen-Raum und jetzt auch in Deutschland sind rechtswidrig, wir lehnen sie ab. Die „stationären Grenzkontrollen“ finden vorrangig an östlichen EU-Innengrenzen statt. Die Bewegungsfreiheit im Schengen-Raum ist seit 1995 eingeführt und ein großer Fortschritt. Asylsuchende dürfen nicht zurückgewiesen werden und sie müssen einen Antrag auf Asyl stellen können, egal in welchem Land sie sich befinden. Asyl als Grundrecht – ohne Einschränkungen

Das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) lehnen wir ab. Es ist eine moralische Bankrotterklärung und ein Einknicken vor den rechten Kräften in Europa. Es verschlimmert die Situation an den Außengrenzen, inhaftiert Schutzsuchende und gefährdet Menschenleben. In Schnellverfahren und unter Haftbedingungen ist keine faire Prüfung möglich. Mit diesem Beschluss entrechten die EU-Regierungen schutzbedürftige Menschen und ziehen die Mauern der Festung Europa höher. Stacheldraht statt Willkommenskultur ist die Botschaft der EU-Asylreform.

Wir wollen ein humanes und menschenrechtsbasiertes Aufnahmesystem, das eine menschenwürdige Versorgung und Unterbringung von Schutzsuchenden jederzeit uneingeschränkt gewährleistet.

Es darf keine Auslagerung von Asylverfahren in Drittländer geben.

Weg von der „Hotspot“-Politik: Wir fordern humane Aufnahmebedingungen statt Lager, in denen Schutzsuchende ohne Perspektive unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten werden.

Das unfaire Dublin-System muss überwunden und durch eine solidarische Regelung ersetzt werden. Bei der Bestimmung des Aufnahmelandes müssen die berechtigten Interessen von Schutzsuchenden maßgeblich berücksichtigt werden (zum Beispiel Familienbindung, Sprachkenntnisse). Aufnahmebereite Länder, Städte und Regionen sollen mit EU-Mitteln finanziell und strukturell besonders unterstützt werden.

Der Familiennachzug muss uneingeschränkt gewährleistet werden, insbesondere für international Schutzberechtigte und andere Schutzbedürftige, die nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren können.

Abschiebungen, insbesondere in Krieg, Verfolgung und Elend oder als Form der Doppelbestrafung, lehnen wir grundsätzlich ab – im Gegensatz zu allen anderen Fraktionen im Bundestag und im Europaparlament. Wir haben immer dagegen gestimmt und werden das auch in Zukunft tun.

Individueller Bedarf besonders schutzbedürftiger Gruppen muss berücksichtigt werden: von queeren Geflüchteten, unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten und weiteren verletzlichen und schutzbedürftigen („vulnerablen“) Gruppen. Für ihre besonderen Schutz- und Hilfebedürfnisse braucht es qualifiziertes Fachpersonal und geeignete Unterkünfte. Zivilgesellschaftliche Initiativen und NGOs, die sich für ihre Rechte und Selbstorganisation einsetzen, müssen finanziell unterstützt und gestärkt werden.

Familien vereinen! Es braucht eine Ausweitung der Familiendefinition auf in den Herkunftsländern nicht anerkannte gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften und auf Verwandte zweiten Grades; insbesondere für unbegleitete Minderjährige.

Willkommen braucht Strukturen

Wir wollen einen EU-Fonds für Willkommenskommunen, der Geflüchteten Bewegungsfreiheit sichert und aufnahmebereiten Kommunen und solidarischen Städten hilft. Kommunen, die die Bedingungen für Willkommenskultur verbessern wollen, können damit Mittel für Versorgung und Integration von Geflüchteten beantragen. Diese Investitionsmittel können von ihnen allgemein für die öffentliche Daseinsvorsorge genutzt werden – so gewinnt Solidarität!

Wir fordern eine soziale Offensive für alle, eine gut ausgestattete öffentliche Daseinsvorsorge und wir wollen den Mangel in den Kommunen und vor Ort bekämpfen.

Wir wollen eine europäische Fluchtumlage, um Verantwortung gerecht zu teilen. Sie knüpft an die Wünsche und Interessen der Geflüchteten an und berücksichtigt bestehende Familienbindungen, sprachliche Kenntnisse und individuelle Umstände.

Der Zugang für Geflüchtete und Migrant*innen zum Arbeitsmarkt und zu internationalen Schulen und die Anerkennung von Qualifikationen, Berufsabschlüssen und -erfahrungen müssen vereinfacht werden. Es muss niedrigschwellige Angebote für Sprachkurse geben.

EU-weite Lösungen setzen eine länderübergreifende Zusammenarbeit und gemeinsame Konzepte voraus. Dafür sollen die Interreg-Mittel des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) für die Zusammenarbeit zwischen Regionen und Ländern innerhalb der EU zur Verfügung gestellt werden.

Legalisierung jetzt!

Kein Mensch ist illegal! In Europa leben Hunderttausende Menschen ohne Papiere oder ohne sicheren Aufenthaltsstatus. Menschen mit und ohne Aufenthaltsrecht oder Arbeitserlaubnis leisten Arbeit, ohne die unser Alltag und unsere Wirtschaft nicht funktionieren würden. Sie arbeiten – oft zu niedrigsten Löhnen – in Privathaushalten und in der Pflege, in der Landwirtschaft, auf dem Bau und im Gastgewerbe. Weil sie oft keine Aufenthaltspapiere oder Arbeitserlaubnis haben, sind sie verstärkt Ausbeutung und Betrug durch Arbeitgeber oder Vermieter ausgesetzt.

Menschen ohne Aufenthaltsstatus haben oft keine Möglichkeit, eine Krankenversicherung abzuschließen. Wir wollen, dass sie Zugang zu guter Gesundheitsversorgung haben. Sie sollen nicht befürchten müssen, von Ärzt*innen oder dem Krankenhaus der Polizei oder der Ausländerbehörde gemeldet zu werden.

Menschen haben ein Recht auf Bewegungsfreiheit und ein Recht auf die Wahl ihres Wohnortes. Das verlangt auch die Europäische Menschenrechtskonvention.

Menschen ohne Papiere dürfen nicht kriminalisiert werden! Wir setzen uns für eine EU-weit abgestimmte Legalisierungskampagne ein.“

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