Erinnerungen an das Jahr 1915. Von Stefan Zweig
„Aber das furchtbarste waren die Lazarettzüge, die ich zwei- oder dreimal benutzen mußte. Ach, wie wenig glichen sie jenen gut erhellten, weißen, wohlgewaschenen Sanitätszügen, in denen sich die Erzherzoginnen und die vornehmen Damen der Wiener Gesellschaft zu Anfang des Krieges als Krankenpfegerinnen abbilden ließen. (…) Eine primitive Tragbare stand neben der anderen, und alle waren sie belegt mit stöhnenden, schwitzenden, todfahlen Menschen, die nach Luft röchelten in dem dicken Geruch von Exkrementen und Jodoform. (…) Zugedeckt mit längst durchgebluteten Kotzen lagen die Leute auf Stroh oder den harten Tragbaren und in jedem dieser Wagen schon zwei oder drei Tote inmitten der Sterbenden und Stöhnenden.“ (S. 284-285)
Nun erst war mir der richtige Antrieb gegeben: man mußte kämpfen gegen diesen Krieg! (…) Ich hatte den Gegner erkannt, gegen den ich zu kämpfen hatte – das falsche Heldentum, das lieber die anderen vorausschickt in Leiden und Tod, den billigen Optimismus der gewissenlosen Propheten, der politischen wie der militärischen, die, skrupellos den Sieg versprechend, die Schlächterei verlängerten, und hinter ihnen der Chor, den sie sich mieteten, all diese ‚Wortmacher des Krieges‘.(…) Wer ein Bedenken äußerte, der störte sie bei ihrem patriotischen Geschäft, wer warnte, den verhöhnten sie als Schwarzseher, wer den Krieg, in dem sie selbst nicht mitlitten, bekämpfte, den brandmarkten sie als Verräter. Immer war es dieselbe, die ewige Rotte durch die Zeiten, die die Vorsichtigen feige nannte, die Menschlichen schwächlich, um dann selbst ratlos zu sein in der Stunde der Katastrophe, die sie leichtfertig beschworen. Immer war es dieselbe Rotte, dieselbe, die Kassandra verhöhnt in Troja, Jeremias in Jerusalem, und nie hatte ich die Tragik und die Größe dieser Gestalten so verstanden wie in diesen allzu ähnlichen Stunden. Von Anfang an glaubte ich nicht an den ‚Sieg‘ und wußte nur eines gewiß: daß selbst wenn er unter maßlosen Opfern errungen werden könnte, er diese Opfer nicht rechtfertigte.“ (S. 287-288)
Erinnerungen an das Jahr 1915. Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 42. Auflage, April 2016. Erstausgabe: Stockholm, 1942.