Wolfgang Müller – ein außergewöhnlicher Mensch und Prolet

Wolfgang Müller 18. 4. 1936 – 26. 1. 2011

(Aus Arbeiterpolitik 52. Jahrgang. Nr. 2. 10. Mai 2011. Informationsbriefe der Gruppe Arbeiterpolitik))

In seinem Abschiedsbrief schrieb Wolfgang: »Ich habe ein reiches Leben hinter mir und wem solch ein Leben zuteil wurde, der sollte auch leicht sterben. Ich kürze ein wenig ab, bevor das Leben anfängt keinen Spaß mehr zu machen… Ich sterbe in dem Bewusstsein, dass ich ein buntes farbiges Leben verbringen durfte.«
Wolfgang spürte seine Krankheiten und die Zeichen des Alters und wollte auf keinen Fall »entmündigt und geistig umnachtet in einer Deponie für alte Menschen« enden.

Wolfgang

 

Wolfgang spürte seine Krankheiten und die Zeichen des Alters und wollte auf keinen Fall »entmündigt und geistig umnachtet in einer Deponie für alte Menschen« enden.

Er, der hilfsbereit und für alle Genossen Zeit aufwandte, wollte nicht in die Rolle des Hilfsbedürftigen geraten.

So setzte er seinem Leben am 26. Januar ein Ende.

Er wuchs in einer Familie auf, die Sympathie mit dem Naziregime hatte. Obwohl sein Großvater wegen einer schweren Bauchverletzung aus dem 1. Weltkrieg bettlägerig war und vor Schmerzen schrie, wenn das Wetter wechselte, meldete sich sein Vater freiwillig zur Wehrmacht und fiel 1941 nach dem Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion vor Moskau. Das änderte nichts an der Sympathie der Mutter für das Naziregime, von dem sie zeitlebens schwärmte, man habe damals angeblich als Frau nachts unbehelligt durch die Straßen gehen können. Seine Mutter war der Auffassung, Wolfgang solle später auch Soldat werden, und steckte ihn in ein Militärwaisenhaus, in denen den Kindern mit Prügeln, Drill und Demütigungen die Naziideologie eingeimpft wurde. 1945 floh die Familie – die Mutter hatte wieder geheiratet – aus der Lausitz nach Westen, wo sie östlich von Hamburg in einem Dorf in einem Häuschen Unterschlupf fanden: sechs Personen in zwei kleinen Dachkammern, kein eigenes Bett, Wasser aus der Pumpe, im Winter aus dem Bach.

Mit dem Stiefvater ging es nicht gut. Schule gab es zunächst nicht, da der Lehrer Nazi gewesen war und nicht unterrichten durfte. 1947 dann Zwergschule, später dann im Nachbarort Besuch einer Art Mittelschule. Dort hatte er das Glück auf zwei Lehrer zu treffen, die für sein Leben prägend sein sollten: Einen Kunst- und einen Musiklehrer.

Der Kunstlehrer schloss ihm das geheimnisvolle Reich der Kunst auf, Wolfgang begriff, dass Kunst eine Welt in uns sein kann, frei von den materiellen Zwängen des Lebens und doch mit diesem verbunden. Dieser Kunst öffnete er sich und blieb ihr sein Leben lang treu. Der Kunstlehrer öffnete ihm die Augen, der Musiklehrer die Ohren. Dieser nahm die Schüler mit nach Hamburg in die Staatsoper und Wolfgang begriff, dass Musik eine Sprache ist, keiner andern vergleichbar, mit der es möglich ist, Empfindungen auszudrücken, für die die Sprache keine Worte besitzt.

Kunst wurde für ihn zum Lebensinhalt und zur Möglichkeit gegen die oft bittere Realität eine eigene Welt zu erschaffen. Er entdeckte sein Talent zur Malerei und fing an zu malen.

1954 begann er eine Druckerlehre in Hamburg, was bedeutete seiner Familie zu entkommen. Er konnte von den 70 Mark Lehrlingsgeld eine kleine Abstellkammer in HH-Bergedorf beziehen. Täglich fuhr er mit der S-Bahn nach Rothenburgsort und ging von dort mit Rolf, einem befreundeten Lehrling, die 45 Minuten durch die Trümmerwüste, die der Bombenkrieg hinterlassen hatte, zu Fuß in den Betrieb auf der Veddel. Das war die GEG, eine gewerkschaftseigene Druckerei der Konsumgenossenschaften, mit über 600 Kollegen ein Großbetrieb, gewerkschaftlich organisiert. Viele dort waren Sozialdemokraten, viele waren im Krieg, einige im KZ gewesen, zum Teil erst vor kurzem aus der Gefangenschaft heimgekehrt.

Wolfgang traf dort auf den Drucker Josef »Pepp« Bergmann, der später Betriebsratsvorsitzender wurde und sich nicht freistellen ließ. Was ihm die beiden Lehrer auf der Schule für den Zugang zur Kunst und Musik bedeutet hatten, wurde Pepp für den Zugang zur Politik. In seinem Nachruf auf Pepp erzählt Wolfgang: »Meine erste Begegnung mit Pepp war, als ich durch Unachtsamkeit eine Maschine in die »Grütze« gefahren hatte. Das mag wohl im ersten Lehrjahr gewesen sein und ich hatte Schiss, dass die Firma meinen Lehrvertrag kündigen könnte, wegen erwiesener Unfähigkeit, den Druckerberuf zu erlernen. Ich wandte mich an Pepp, vermutlich, weil ich spürte, dass er der einzige war, der mir helfen würde. Er schickte sofort einen Kollegen zum Meister in den Glaskasten, um ihn abzulenken, damit er nicht zu uns herüber sah, holte einen Vorschlaghammer und brachte damit die Maschine wieder zum Laufen, die lief jetzt etwas anders und machte zudem Geräusche, wie vorher nicht, und dann sagte er zu mir: ‚Tu so, als wenn nichts gewesen ist, und wenn sie was merken, dann stellst du dich dumm – dürfte dir doch nicht schwer fallen.‘ Er hat nie wieder darüber geredet. Das hat mich schwer beeindruckt, deshalb habe ich diesen Vorfall in Erinnerung behalten.«

Pepp und Wolfgang

 

Mit der Zeit begriff Wolfgang, dass die Gesellschaft eine Klassengesellschaft ist und dass er zur Arbeiterklasse gehört. So wie die Kunst wurde Klassenbewusstsein seine zweite Natur. Und die Politik kam dazu: 1956 nach dem Nato-Beitritt Westdeutschlands wurde die Bundeswehr wieder gegründet. Es gab einen massiven Aufschrei und riesige Demonstrationen, die ganze Belegschaft der GEG-Druckerei marschierte auf den Rathausmarkt. Von da an war Wolfgang dabei: ab 1957 in der Bewegung »Kampf dem Atomtod« (gegen die Pläne, die Bundeswehr mit Atomwaffen auszurüsten), dann in der Ostermarschbewegung.

 


Ende der 50er Jahre traf er dabei auf Renate, die bei den »Falken« Mitglied war und später seine Frau wurde. Renate wurde zum wichtigsten Menschen in seinem Leben, sie vertraute ihm und mochte ihn so, wie er war.

Sie waren fortan unzertrennlich, nicht nur privat, auch politisch, beide kamen zur »Gruppe Arbeiterpolitik«, auf Demos und Ostermärschen sah man sie immer gemeinsam – zwischen Privat und Politik gab es keine Trennung.

1965 kam Katrin zur Welt und von nun an waren sie zu dritt. »Für uns war klar, wir sind jetzt zu dritt und du, Katrin, nimmst jetzt an unserm Leben teil.«

Wolfgang war ungeheuer wissbegierig; unruhig, rastlos, wie er war, zog es ihn immer wieder auf Reisen. Nachdem er mit Bestnoten seinen Gesellenbrief bekommen hatte, fuhr er zusammen mit zwei Lehrlingsfreunden von der GEG mit dem Fahrrad durch Deutschland und Frankreich; ein Jahr später, die drei hatten wieder gekündigt (es war damals, als die Arbeitskraft Mangelware war, ein Leichtes, wieder eine Stelle zu bekommen) dreieinhalb Monate mit dem Rad durch Österreich, Jugoslawien, Griechenland bis in die Türkei. Für seine beiden Begleiter, Rolf und Klaus, war Wolfgang der Motor, der Kompass, er wusste an jedem Ort, welches Museum, welche Sehenswürdigkeit angelaufen werden musste. Nebenher malte er Aquarelle und hielt seine Eindrücke fest.

Später, mit der Familie, schafften sie sich ein Faltboot an und von da an war kein Fluss oder See in Europa mehr sicher vor ihnen. Rad-, Paddel-, Wandertouren: Im Zelt und ohne viel Geld wurde die Welt erobert.

Ende der 50er Jahre kam er über Pepp näher zur Gruppe »Arbeiterpolitik«, deren Treffen vorwiegend politische Abende mit Heinz Brandler waren: Geschichte der Arbeiterbewegung, die Geschichte der kommunistischen Bewegung, die Auseinandersetzungen in den 20er Jahren, die Geschichte der Sowjetunion, politische Ökonomie: Schulung auf höchstem Niveau. Als Brandler nach einer Operation ins Pflegeheim kam, wo es ihm nicht gutging, übernahm Wolfgang die Pflege, bis Brandler wieder soweit gehen konnte, dass er nach Hause zurück konnte. Brandler erzählte ihm bei Rotwein seine Lebensgeschichte, zum Beispiel wie er nach einem zwölfstündigen Arbeitstag noch zwei Stunden zu Fuß marschierte, um einer Rede von Engels zuhören zu können. Solche Geschichten prägten sich ihm ein. Die Episode mit Brandler war typisch für Wolfgang: Wo Hilfe nötig war, war er zur Stelle, was getan werden musste, tat er. Solidarität war für ihn kein Wort, sondern Lebensprinzip.

Mit fünf, sechs anderen Genossen gehörte er zu den wenigen, die in der wirtschaftlichen Aufschwungphase Westdeutschlands in der Gruppe Arbeiterpolitik politisch überwinterten, als die Arbeiter einen Lebensstandard erwerben konnten, der in der Geschichte beispiellos war und der sie unpolitisch und individualistisch werden ließ. Erst Ende der 60er, Anfang der 70er stießen wieder junge, politisch Interessierte aus der Studenten- und Lehrlingsbewegung zur Gruppe. Für viele, die bis dahin an der Uni theoretisch über Arbeiterklasse diskutiert und im Grunde keine Ahnung hatten, war Wolfgang auf einmal jemand, der Arbeiter war, der wusste, was »Klassengesellschaft« bedeutete und der ihnen die kompliziertesten Zusammenhänge einfach und praktisch erklären konnte. Theoretische Diskussionen und Höhenflüge im praxisfernen Raum waren nie Wolfgangs Sache, für ihn mussten sich Theorien in der Praxis bewähren oder sie blieben eben Theorie. Dabei war er aus der Kenntnis des Bewusstseins der Kollegen im Betrieb und der Gewerkschaft immer skeptisch und den optimistischen Glauben an eine baldige revolutionäre Veränderung, den viele mitbrachten, teilte er nie. Wenn er mal mit Pepp stritt, dann darüber. Missionar zu sein lag ihm fern.

Trotzdem war auch er enttäuscht über die Entwicklung in den letzten Jahren, besonders nach 1990, dem Zusammenbruch der sozialistischen Länder. Dass dadurch die Chancen für eine revolutionäre Bewegung wachsen würden, wie manche meinten, diese Hoffnung hatte er nicht. Auch wenn er versuchte, sich das nicht anmerken zu lassen, sein gelegentlich aufblitzender Zynismus sprach für sich.

In den 70er Jahren konnte die Bremer Gruppe den Druck der Zeitung nicht mehr bewältigen, so übernahm Hamburg die Aufgabe. Von nun an war Wolfgang nicht nur Drucker im Betrieb, sondern auch der Drucker der Gruppe, bis in die 90er, als wir die Zeitung in Lohndruck herstellen ließen. Das bedeutete oft nächtelange Arbeit oder Arbeit an Wochenenden, natürlich waren auch andere dabei, aber Wolfgang war der entscheidende Mann. Aber er druckte nicht nur unsere Zeitung und auch Broschüren, sondern war auch immer da, wenn Anfragen von außen kamen wegen Flugblättern z.B. Wolfgang war immer bereit, allerdings unter einer Bedingung: Es musste immer einer von denen dabei sein und mithelfen, die etwas drucken lassen wollten.

Das war sein Prinzip: Ich helfe dir, aber du musst mitmachen, ich bin nicht dein Dienstmädchen. So verstand Wolfgang Solidarität: keine Almosen, sondern Unterstützung beim eigenen Tun.

Diese Solidarität galt auch bei Arbeitskonflikten, wenn es darum ging Kontakt aufzunehmen, sich zu informieren. 1993 besuchte Wolfgang die Kumpel vom Kalibergwerk in Bischofferode, die sich gegen den von der Treuhand und den westdeutschen Konzernen verordneten Kahlschlag zur Wehr setzten. Wolfgang fuhr 1994 zu den Busfahrern nach Esbjerg, die gegen ihre Privatisierung streikten, wo ihm ein Polizeihund die Hose aufriss. Im selben Jahr nahm er an der Reise einer Gewerkschafterdelegation nach Batman in der Türkei teil und berichtete über den Staatsterror gegen die dortige kurdische Bevölkerung.

Ganz wichtig wurde für ihn der Krieg der NATO gegen Jugoslawien. Jugoslawien hatte er früher auf seinen Reisen sehr gut kennen und lieben gelernt und war dort immer wieder auf die Spuren der Nazibesatzung gestoßen, die die Bevölkerung terrorisiert und ermordet hatte.

Nun wurde wieder ein Krieg gegen Jugoslawien geführt und wieder mit deutscher Beteiligung. Für ihn war klar sich an der Gewerkschafterinitiative »Dialog von unten – Gegen Bomben von oben« zu beteiligen und mitten im Krieg mit anderen Gewerkschaftern nach Belgrad und Kragujevac zu fahren und dort Kollegen zu treffen und ihnen davon zu berichten, dass nicht alle in Deutschland und nicht alle Gewerkschafter in Deutschland – entgegen der Unter- stützung des Kriegs durch den DGB – mit dem NATO-Angriff einverstanden waren. In Deutschland berichtete er an mehreren Orten von seinen Erfahrungen und betreute die Gewerkschaftskollegen aus Serbien, als sie hierher zum Gegenbesuch kamen.

Als sich 2005 das »Jour Fix der Gewerkschaftslinken« gründete, war Wolfgang sofort dabei. Er verstand das Treffen als einen Ort, wo sich aktive Kollegen, die sich zur Wehr setzen und mit der Gewerkschaftsführung in Konflikt geraten, treffen und ihre Erfahrungen austauschen können. Er suchte den Kontakt zu jüngeren Berufstätigen. Dabei war ihm der Widerspruch bewusst, den es auszuhalten und zu verstehen gilt, dass die Gewerkschaften einerseits in ihrer Rolle als staatstragende Ordnungskraft und Partner des Kapitals selbstständige Aktionen der Kollegen abblocken, abwürgen, für die Interessen der Kollegen kämpfende Kollegen beiseite schieben und zur Not auch ausschließen; andererseits aber im Konflikt die Kollegen die Gewerkschaft brauchen, in der direkten Auseinandersetzung mit dem Unternehmer wegen Kündigungen oder Schließung auf die Gewerkschaften angewiesen sind, ohne den Apparat und die Organisation hilflos sind.

Hier verwies er auf seine Erfahrungen als Betriebsobmann im Kleinbetrieb, wo er ohne den Sachverstand der Gewerkschaftsfunktionäre die Auseinandersetzungen mit dem Unternehmer vor Gericht verloren hätte.

Mit dem Jour Fixe nahm er Kontakt auf zu der Belegschaft von Gate Gourmet in Düsseldorf, die sich gegen eine »Heuschrecke« zur Wehr setzte und wochenlang gegen die geplanten Verschlechterungen streikte; er fuhr nach Nordhausen zu den Kolleginnen und Kollegen von Bike Systems, die den Betrieb besetzten, als ein Privatinvestor –auch eine »Heuschrecke« – den Laden dichtmachte, und 1850 Fahrräder (»Strike Bikes«) produzierten. Und er war dabei, als Hafenarbeiter in Bremerhaven und Bremen als Folge der Wirtschaftskrise ab 2008 auf Niedriglohn gesetzt bzw. entlassen werden sollten, mit ver.di in der Rolle des Arbeitgebers.

1998 war Renate nach kurzer schwerer Krankheit gestorben, kurz nach Beginn ihrer lang ersehnten Rente. Das traf ihn mit voller Wucht, weil die Partnerin, mit der er alles teilte und der er alles mitteilen konnte, auf einmal fehlte. Hesses Wort »Leben ist einsam sein« galt nun auch für ihn. Immer wieder suchte er seinem »Affenkäfig«, zu dem ihm seine Wohnung geworden war, zu entkommen. Auf monatelangen Paddel- und Fahrradtouren durch Europa spannte er all seine Kräfte an, versuchte die Geschichte der Orte zu ergründen und zu erfassen und verarbeitete später mit Hilfe seiner Tagebucheinträge die Reiseeindrücke zu wunderschönen Reiseberichten.

Malerei, Literatur, Musik blieben ihm daneben als Möglichkeit zum Überleben, mehr als je zuvor. Er hatte ein unglaubliches Wissen gesammelt, war über die Jahre zu einem hochgebildeten Menschen geworden, obwohl er sich selbst nur als »halb gebildet« bezeichnete. Dabei erfasste er die Kunst nicht nur vom Ästhetischen her, sondern jedes Kunstwerk war für ihn Geschichte des Lebens eines Autors, eines Malers, eines Musikers, Ausdruck des Könnens und Denkens und der Verhältnisse der jeweiligen Zeit. Er redete nicht von historischem oder dialektischem Materialismus, aber wenn man ihm zuhörte, dann waren es Vorträge auf einfache, verständliche Weise, in denen diese Denkweise Ausdruck bekam. Er hatte viel von einem Künstler, wäre aber viel zu bescheiden gewesen, sich als solchen zu bezeichnen. Sein sinnlicher Zugang zur Welt war auch in seinem politischen Auftreten zu spüren.

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