Jour Fixe 203

Datum: 02/11/2022
Uhrzeit: 18:30 - 21:00
Ort: Curiohaus. Rothenbaumchaussee 15, Hofdurchgang, 20148 Hamburg
Jour Fixe

 

Einladung zum 203. Jour Fixe am 02. November um 18 Uhr 30

Auf dem Weg in den Überwachungsstaat?

Pandemie-Maßnahmen und der Ausbau digitaler Überwachungsinfrastrukturen

Referent: Herbert Werner, TU Hamburg

Seit 2016 gibt es eine globale Initiative, die sich zum Ziel gesetzt hat, jeden Menschen auf der Erde mit einer eindeutigen biometrischen digitalen Kennzeichnung zu versehen. Das ist die ID2020 Allianz, gegründet u.a. von Microsoft, der Impfallianz GAVI (gefördert von der Bill-and-Melinda-Gates Foundation), und der Unternehmensberatung Accenture (spezialisiert auf Cloud-Dienste). Seit 2018 fördert das Weltwirtschaftsforum (WWF) diese Initiative, und unterstützt von Accenture hat das WWF ein Arbeitsprogramm für Regierungen und private Organisationen veröffentlicht, das darauf zielt, eine globale Infrastruktur für digitale Identitätsnachweise aufzubauen.

Das Ziel der digitalen Kennung aller Menschen wird begründet mit dem Recht eines jeden auf eine „legale Identität“, und in letzter Zeit auch mit Erfordernissen der Pandemiebekämpfung. Wohin die angestrebte Entwicklung tatsächlich führt, kann man an den Ergebnissen von Feldversuchen in einer Reihe von Entwicklungsländern beobachten, etwa in Uganda oder Indien, wo digitale Kennungen bereits auf nationaler Ebene eingeführt wurden, mit teilweise katastrophalen Folgen für Teile der Bevölkerung, die wegen fehlender digitaler ID von staatlichen Leistungen und Diensten ausgeschlossen wurden.

Eine erhebliche Beschleunigung erlebte der globale Trend zur digitalen Erfassung und Kontrolle aller Menschen seit 2020 mit der Verhängung von Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung und der damit verbundenen massiven Einschränkung von Grundrechten. Das Potenzial der neuen digitalen Infrastruktur für Massen- und Aufstandskontrolle illustrierte kürzlich ein Vorfall in der chinesischen Provinz Henan: eine größere Anzahl von Bankkunden aus ganz China wollte in Panik nach Henan reisen, um Geld von einer in Betrugsgeschäfte verwickelten Bank abzuheben. Viele konnten die Reise allerdings nicht antreten oder fortsetzen, weil eine lokale Behörde den Health-Code der Betroffenen von grün auf rot gesetzt hatte. Dadurch wurde für diese die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel unmöglich. (Es sei angemerkt, dass die verantwortliche Behörde daraufhin gemaßregelt und Ermittlungen eingeleitet wurden.)

Die planmäßige Vorbereitung auf den dann 2020 verhängten weltweiten Ausnahmezustand interpretiert der niederländische Politikwissenschaftler Kees van der Pijl in seinem gerade erschienen Buch im Zusammenhang mit der seit der Finanzkrise 2008 weltweit zu beobachtenden starken Zunahme sozialer Unruhen. Statistiken der Datenbank CNTS (European University Institute) zeigen, dass diese seit 2008 alle Rekorde gebrochen haben, und nach Meinung van der Pijls kamen die Corona Lockdowns gerade rechtzeitig, um diese Entwicklung zu stoppen. Die International Labor Organisation (ILO) berichtete 2013, dass die Gefahr einer sozialen Explosion am größten nicht etwa im Nahen Osten, sondern in der EU und vor allem in deren südlicher Hälfte sei. Insbesondere Frankreich schien sich auf eine potentiell revolutionäre Krise hinzubewegen, bis dann 2020 die Pandemie ausgerufen wurde.

Alle hier angesprochenen Aspekte der Digitalisierung der Gesellschaft werden im Vortrag diskutiert. Zum Schluss wird die Frage aufgeworfen, wie man das demokratische und emanzipatorische Potenzial der IT Revolution für die Gesellschaft nutzbar machen kann angesichts der Tatsache, dass die Internet- Infrastruktur sich im Eigentum US-basierter IT-Konzerne befindet.

 

Relevante Literatur:
Norbert Häring: Endspiel des Kapitalismus, 2021
Kees van der Pijl: States of Emergency, 2022
Thomas Röper: Inside Corona, 2022