Organisierung im großen Haufen als Voraussetzung für Widerstand

Die SoZ-Redaktion formulierte in SoZ 5/2016 folgende Frage an die Leserschaft: Soll man sich in DGB-Gewerkschaften organisieren? oder: Wie lässt sich kämpferische Politik am besten durchsetzen? Der Kollege Jakob Schäfer hat mit seinem Artikel «Auf absehbare Zeit gibt es keine Alternative zu den DGB-Gewerkschaften» in derselben Ausgabe die gewünschte Debatte eröffnet.

Schon mit der Überschrift seines Artikels, «Die Musik spielt da, wo die Masse der Kolleginnen und Kollegen Gewerkschaft sieht», macht er eine klare und unterstützenswerte Aussage. Und im ersten Satz stellt er die richtige Frage: «Für viele, die das herrschende System als hinfällig betrachten (oder es gar bekämpfen wollen), ist es alles andere als selbstverständlich, sich dafür auch in einer Gewerkschaft zu organisieren. Und wenn ja, wieso dann in einer DGB-Gewerkschaft, wo doch der DGB nun wirklich nicht system­oppositionell ist?»

Diese Frage sollten sich jedoch nicht nur politisch Bewusste stellen, auch Kolleginnen und Kollegen, die in Arbeitskämpfen oder in Auseinandersetzungen mit ihrem Arbeit«geber» stehen, kommen Zweifel, ob sie in der «richtigen» Gewerkschaft organisiert sind. Die Voraussetzung dafür ist, dass sie sich in Auseinandersetzungen um ihre Arbeitsbedingungen befinden.

Konkrete Fälle

Firma Bossel, Bedrucker von Kunststoffen in Sprockhövel (bei Wuppertal).
Dort sind vor kurzem fast alle Kollegen, die in der IG BCE waren, aus Unzufriedenheit mit den Funktionären zu Ver.di übergetreten. Sie erhoffen sich von Ver.di eine kämpferischere Unterstützung und weniger Zusammengehen mit der Geschäftsleitung, als es bei der IG BCE der Fall ist. Bisher sind sie mit der Unterstützung durch Ver.di zufrieden.

Ein weiteres Beispiel war der mehrmonatige Streik bei der Firma Neupack (Hamburg/Rotenburg) in den Jahren 2012/2013: Der Zweifel der Streikenden an «ihrer» Gewerkschaft wuchs, als sie merkten, dass die Funktionäre nicht mehr hinter ihrer Forderung nach einem (Haus-)Tarifvertrag standen, sondern nur noch eine Betriebsvereinbarung anstrebten. In den Monaten an den Feuerkörben und im Zelt diskutierten die Streikenden (untereinander und im Soli-Kreis) die Möglichkeit, in die IGM überzutreten oder eine Betriebsgewerkschaft zu gründen. Grund genug für ihren Ärger hatten sie, da IG BCE-Funktionäre ihnen drohten, bei Ungehorsam das Streikgeld nicht zu zahlen.

Bossel und Neupack sind Kleinbetriebe mit rund 200 Beschäftigten. Hier haben jeweils wenige Einzelne die Initiative ergriffen und die Kollegen organisiert, um einen Betriebsrat zu bilden und einen Tarifvertrag abzuschließen. Für diese Aktivisten wäre es kaum möglich gewesen, ihre Kollegen für eine andere Organisation als die DGB-Gewerkschaft IG BCE zu werben.

Wenn die SoZ-Redaktion die Frage stellt: «Wie stärkt ihr die Selbstorganisation von Kollegen?», so ist diese Selbstorganisation mit dem Eintritt in eine DGB-Gewerkschaft noch keinesfalls erfüllt. Er ist aber eine Voraussetzung. Wir unterstreichen die Meinung des Kollegen Schäfer: Gewerkschaft hat schon was mit Masse zu tun. Nicht die Organisation ist Gewerkschaft, die die «richtige» Ideologie hat. Die DGB-Gewerkschaften und GDL, Cockpit und Marburger Bund sind Gewerkschaften, die Massen von Kollegen vertreten, und das ist ein entscheidendes Merkmal.

Der Kollege Peter Nowak stimmt Jakob Schäfer zu (SoZ 7-8/2016), mit einer Einschränkung: Er verweist auf die Basisgewerkschaften Industrial Workers of the World (IWW) und Freie Arbeiter-Union (FAU), die eine Politik der Klassenversöhnung ablehnen. Jakob Schäfer hatte FAU und Wobblies, die mit einigen Dutzend oder hundert Mitgliedern den Anspruch erheben, Gewerkschaft zu sein, einfach nicht auf seinem Bildschirm. Nochmal: Es geht nicht um die Richtigkeit von Programmen. Außer Frage stehen die Verdienste von kleinen politischen Gruppen wie FAU oder Wobblies bei der Unterstützung von kleinen Belegschaften oder auch einzelnen bedrängten Betriebskollegen.

In und mit dem DGB

Und dennoch: Soll man in eine Organisation eintreten, deren Ziele man nicht vertritt? Diese Frage stellt die Zeitung an Linke. Kollegen in den Betrieben stellen sich diese Frage gar nicht. Sie stellen sich die Frage: Was nützt mir der Eintritt in die Gewerkschaft? Sie versprechen sich besseren Schutz, Streikgeld. Viele dieser neu Eintretenden haben sozialpartnerschaftliche Vorstellungen im Kopf wie ihre Gewerkschaftsführungen! Allerdings mit einem Unterschied: Für die Führungen ist die Sozialpartnerschaft mit Kapital und Staat etwas Wesentliches, diese Ideologie ist so fest in ihren Köpfen, dass sie sie mit ins Grab nehmen. Es ist die ideologische Grundlage ihrer Macht.

Die Kollegen müssen ihre Erfahrungen in und mit den DGB-Gewerkschaften machen. Das ist notwendig, weil sie damit ihre Vereinzelung aufheben, ein Kollektiv bilden und somit die Voraussetzung für Widerstand und Kampf – allerdings unter dem Einfluss und sogar unter der Führung von sozialpartnerschaftlichen Vorständen.

Aber durch dieses Tal des Leidens und der Enttäuschungen, das ihnen mit diesen sozialdemokratischen Apparaten und Führungen bevorsteht, müssen sie durch. Wenn sie ihre Interessen durchsetzen wollen, nehmen sie nicht nur den Kampf gegen ihre Kapitalisten auf, sondern auch gegen deren Sozialpartner. Diese Verhältnisse werden im gewerkschaftlichen Alltagsablauf nicht deutlich, aber immer dann, wenn Widerstand und Abwehr entsteht. Dann lernen die Kollegen, sich von ihren Füh­rungen zu emanzipieren und Selbstbewusstsein zu erlangen. Und dass die Gewerkschaftsapparate Organe sind, die nicht nur von ihnen finanziert werden, sondern auch ihre Interessen durchzusetzen haben.

Es geht darum, jenseits aller ideologischen und organisatorischen Begrenzungen und Konkurrenzen eine allgemeine Widerstandsfront und oppositionelle Strukturen zu bilden gegen Kapital und sozialpartnerschaftliche Helfershelfer in den eigenen gewerkschaftlichen Reihen. Diese entstehen am ehesten nach Enttäuschungen bei Kämpfen, die verloren wurden, weil das Kampfpotenzial nicht ausgeschöpft und vorzeitige Kompromisse abgeschlossen wurden.

Für die Form der Organisierung in den Betrieben gibt es keine Patentrezepte, allerdings ein paar Grundsätze. Ob die Kollegen sich als offizielle Betriebsgruppe, als klandestine Betriebszelle, als Betriebszelle mit einem betrieblich bekannten Kollegen oder als informeller Stammtisch organisieren, müssen die sich organisierenden Kollegen entscheiden. Was Anfang der 1970er Jahre, als sich hunderte Betriebsgruppen (oder noch mehr?) bildeten, passierte, war allerdings, dass die kommunistischen bzw. anarchistischen Gruppen sich eher gegenseitig bekämpften als die gemeinsamen Gegner: den Kapitalisten und die sozialpartnerschaftlich eingestellte AfA (Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen) der SPD. Letztere war dann auch meistens der lachende Dritte.

Unterstützung ist ­angesagt

Kein Rezept, aber ein gutes Lehrmaterial ist die Broschüre von Berni Kelb, Betriebsfibel – Ratschläge für die Taktik am Arbeitplatz – mit hoher Auflage und viel gelesen damals, aber nicht umgesetzt!

Wenn der Kollege Nowak schon in der Überschrift seines Artikels schreibt: «Im prekären Sektor gibt es eine Alternative zum DGB» und sich damit in Gegensatz zu Jakob Schäfer setzt, dann impliziert er, dass der nichtprekäre Bereich ein Feld für die DGB-Gewerkschaften ist. Auch hier kann es mittel- oder langfristig zu Eruptionen der Mitgliedschaft in den Betrieben kommen angesichts des Weges, den die DGB-Gewerkschaften mit ihren Zukunftspakten «Industrie 4.0» und «Dienst­leistung 4.0» mit Kapitalverbänden und Staat geschlossen haben. Davon dürften kleine Gruppen wie FAU und Wobblies kaum profitieren.

Ein Vorbote dieser möglichen Entwicklung ist der wilde Streik einer Schicht bei Mercedes in Bremen gegen den Abbau von Stammarbeitsplätzen zugunsten von Werkverträgen und Leiharbeit. Eine Maßnahme des Werkes, die die Unterstützung des Bremer IGM-Vorstands fand! Bei Industrie 4.0 geht es genau um diese gesamtwirtschaftliche Entwicklung, bei der Kapital und Staat die DGB-Gewerkschaften mit ins Boot geholt haben, um bei diesem Prozess für Betriebsfrieden zu sorgen. In Bremen ist ihnen das nicht gelungen!

Aber auch mit seiner generellen und erwartungsvollen Sichtweise, dass der prekäre Bereich ein Feld für Gruppen wie FAU und Wobblies sei, liegt der Kollege Nowak daneben. Nur in Einzelfällen nehmen Kollegen in ihrer Notlage die Unterstützung dieser Gruppen in Anspruch, nachdem sie eine Abfuhr bei den DGB-Gewerkschaften bekommen haben.

Ein besonders prekärer Bereich in unserem Wirtschaftsleben ist das Transportgewerbe. Während es vor 30 Jahren dort noch akzeptable Arbeitsbedingungen und Löhne gab und auch der Organisationsgrad (ÖTV) noch recht hoch war, sind sie heute keinem mehr zuzumuten. Inzwischen gibt es kaum noch bei Ver.di organisierte Trucker. Ver.di hat sich ganz rausgezogen, weil es zu mühselig ist und sich «finanziell nicht lohnt». Es haben sich in Selbstorganisation zwei kleine Truckerverbände gebildet, aber fast unorganisiert stellen die Trucker keine Gegenmacht dar gegen die immer noch schlechter werdenden Arbeitsbedingungen. Obwohl sie objektiv eine «Produktionsmacht» hätten wie Cockpit und GdL – wenn sie den organisiert wären! Die Frage ist: Gibt es politische Gruppen in Deutschland, die die Bildung einer Truckergewerkschaft unterstützen und begleiten könnten?

Je schärfer der Druck durch die Geschäftsführungen wird, desto mehr müssen Kollegen Unterstützung von au­ßen suchen. Alle betriebspolitisch agierenden Gruppen sollten ihre ideologischen Begrenzungen aufgeben und sich zu reinen Unterstützungsorganisationen der wirklichen Bewegung umfunktionieren! Damit täten sie einer neu entstehenden Arbeiterbewegung den größtmöglichen Gefallen.

Mutig über den Tellerrand schauen

Auch Willi Hajek bezieht Gegenposition zu Jakob Schäfer, wenn er schreibt (SoZ 7-8/2016): «Ich denke aber eher: Individuelle und kollektive Initiativen sind jeden Tag mehr gefordert, entschlossenes und mutiges gewerkschaftliches Handeln wird gebraucht, und vor allem keine Angst vor legitimen Aktionen, die auch nicht immer legal und ordentlich sein müssen.» Aber wer würde dem Kollegen Hajek dabei widersprechen? Ein anderer Geist ist geradezu Voraussetzung für emanzipativ-organisatorische Veränderungen in den Betrieben!

Falls er allerdings meint, dass Veränderungen dieser Art nicht von Seiten der DGB-Gewerkschaften kommen oder von Co-Management-Betriebsräten, dann hat er allerdings recht. Er sagt: «Schauen wir nach France.» Wenn wir das als Gewerkschaftsaktive tun, können wir uns bei der Beobachtung der Ereignisse in Frankreich begeistern, wenn wir die Reaktionen in Deutschland, ob in den Betrieben oder der Gesamtgesellschaft, betrachten, können wir in Trübnis und Depression verfallen.

Zwei kleine Erlebnisse aus Hamburg: An der Solidaritätsdemonstration für die Streikenden in Frankreich vom französischen Generalkonsulat zum Rathausmarkt nahmen nur 30 (!) Menschen teil. Am 22.6. fand ein Streiktag der Kollegen von Atos statt, einem Weltkonzern mit Sitz in Frankreich. Sehr vorbildhaft hatten die Vertrauensleute des Hamburger Atos-Betriebs mit dem zuständigen IGM-Sekretär die Idee gehabt und umgesetzt, für Protestkundgebungen zu Großkunden zu fahren (Airbus, Philipps, Siemens). Bei den diversen Reden an diesen drei Orten erwähnte keiner die Kämpfe in Frankreich. Die einzige Aktivität zu Frankreich aus einem Betrieb heraus war wohl das Aushängen eines Transparents bei Mercedes Bremen. So ist der Stand des Bewusstseins der Kolleginnen und Kollegen in Deutschland – es bleibt uns nichts übrig, als das als Ausgangspunkt zu nehmen!

Der Kollege Hajek schreibt, dass wir wenig aus den etablierten Medien und auch aus der lokalen Presse erfahren, «was sich in der gewerkschaftlichen und gesellschaftlichen Landschaft real tut», aber wer will, kann das täglich bei Labournet erfahren! Aus seinen Wahrnehmungen bei SoZ, express und anderen Zeitungen zieht er für sich optimistische Schlüsse. Über die Beispiele, die er aufzählt, ist wohl jeder erfreut! Es geht aber um das, was er im letzten Satz in seiner Replik auf Jakob Schäfer schreibt: «Mit diesem Öffentlichwerden können wir dann auch voneinander lernen, uns kritisch auseinandersetzen und Vorstellungen von emanzipativen, basisgewerkschaftlichen Praktiken entwickeln und erfinden.»

Es geht also um die Frage: Wie organisieren sich Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben, um Widerstand zu leis­ten? Und was für Positionen entwickeln außerbetriebliche Gruppen?

Darauf habe ich versucht einzugehen.

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