Anläßlich unseres 165. Jour Fixe m 4.7.2018 interviewte die online-Zeitung Schattenblick den Referenten Dr. Wolfgang Hien.
Der „in der Chemie“ arbeitende Mensch erfuhr eine Körperenteignung, wie sie Arbeiter/innen in anderen Branchen nicht kannten. Der Körper war Besitz des „Werkes“, seiner Betriebsführer und Betriebsärzte. Sie verfügten über die Definitionsmacht, die den Betroffenen die Sprache und mit ihr einen Gutteil der Wahrnehmungsfähigkeit nahm, die ein grundsätzliches und nicht nur eruptives Sich-Wehren erfordert hätte.
Wolfgang Hien: Die Arbeit des Körpers, Seite 90/91 [1]
Der 165. Jour Fixe der Hamburger Gewerkschaftslinken [2] am 4. Juli im Curiohaus war dem Thema „Gesundheitszerstörung in der Arbeitswelt“ gewidmet. Dr. Wolfgang Hien [3] las aus seinem Buch „Gegen die Zerstörung von Herz und Hirn – ’68‘ und das Ringen um menschenwürdige Arbeit“, das 2018 im VSA Verlag erschienen ist [4]. Im Gegensatz zu jenen 68ern, die damals von der Uni in die Fabrik gegangen sind, kommt er aus der Fabrik und hat sich später auch der Wissenschaft zugewandt. Er war unter anderem knapp drei Jahre als Hauptamtlicher beim DGB-Bundesvorstand als Referatsleiter zuständig für den Gesundheitsschutz. Dieses Intermezzo endete mit einem Zusammenbruch, was nach einer längeren Reha dazu führte, daß er sich selbständig machte. Als ihn Karl Heinz Roth von der Stiftung für Sozialgeschichte fragte, ob er seine Erfahrungen bei der Gewerkschaft nicht als Buch festhalten wolle, lehnte er das ab. Allenfalls könne er dazu ein Interview geben. Roth fand mit Peter Birke einen Historiker, der zum Thema neuere Arbeiterbewegung einschlägig qualifiziert ist und eine vielbeachtete Doktorarbeit zu den wilden Streiks der 1960er Jahre geschrieben hat. Im Gespräch sei man dann übereingekommen, auch auf die Vorgeschichte einzugehen und bei der Lehrzeit 1965 zu beginnen. Im Verlauf von sechs bis sieben Jahren kam es zu dreizehn Terminen, die auf sieben Gespräche zusammengefaßt wurden. Etwa 700 Seiten Transskriptmaterial wurden von Birke kondensiert, ohne dessen qualifiziertes Nachfragen das Buch nicht entstanden wäre.
Leider war es Peter Birke aufgrund eines dienstlichen Termins nicht möglich, der Einladung zum Jour Fixe zu folgen.
Sachkundiger Blick auf die aktuellen Kämpfe in Nicaragua Zunächst aber berichtete der Hamburger Kinderarzt Dr. Jürgen Steidinger [5], der von 1986 an 26 Jahre in Nicaragua gelebt hat, von den aktuellen Entwicklungen im Land. Eine Jubelrede auf die Revolution und Daniel Ortega könne man nicht von ihm erwarten, schickte er warnend voraus. Die Enkel der Revolutionäre von 1979 seien heute der Motor der Proteste, die im Einklang mit der Zivilgesellschaft fordern, daß Daniel Ortega mit seiner gesamten Regierung einschließlich seiner Familie abtritt und das Land so schnell wie möglich verläßt. Steidinger zufolge ist diese Bewegung nachweislich ohne Beteiligung der US-Regierung oder der CIA von Studenten ins Leben gerufen worden, sie hat bislang keinerlei Führung und lebt aus sich selbst. Im Land der 6,3 Millionen Einwohner kocht es seit dem 16. April, mindestens zweimal in der Woche finden nicht nur in Managua, sondern auch in anderen Städten Massenkundgebungen statt. Die Revolutionäre von einst werden von ihrer eigenen Geschichte eingeholt. Sie werden von ihren Enkeln ohne Waffen, aber mit großer Entschlossenheit bekämpft. Daniel Ortega, der lange im Gefängnis El Chipote in Managua saß, das damals Somozas Folterknast war, hat dieses Gefängnis vor wenigen Jahren reaktiviert, in das seither aus dem ganzen Land Verdächtigte gebracht und nach den alten Methoden behandelt werden. Wie der Referent weiter ausführte, war Ortegas Erlaß zur Sozialversicherung zwar Anlaß der Proteste, die jedoch eine lange Vorgeschichte haben. 1990 wurden die Sandinisten abgewählt, und Violeta Chamorro stieg ins Präsidentenamt auf. Ortega trat überraschend friedlich ab und erklärte, man werde das Volk jetzt von unten regieren. Die Frente Sandinista bereitete ihre Rückkehr an die Macht vor, 2006 war es soweit. Dank verschiedener Deals mit liberalen Präsidenten, darunter dem korrupten Arnoldo Alemán, änderte Ortega den erforderlichen Stimmenanteil bei der Präsidentschaftswahl und kehrte mit 38 Prozent an die Macht zurück. In der Folge brachte er all das auf den Weg, was wir heute erleben, so Steidinger. Die Rentenkürzung und Beitragserhöhung war nur der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Ortega war 2006 mit dem Slogan eines christlichen, solidarischen und sozialistischen Nicaragua angetreten. Heute findet man diese drei Qualitäten nirgendwo im Land, unterstrich der Referent. Ortega hat demnach eine Familiendiktatur aufgebaut, die nichts aus der Zeit der Revolution übrigließ. Nicaragua erhielt aus Venezuela etwa 4 Milliarden US-Dollar, die direkt in Ortegas Hände flossen. Es war ein Schattenhaushalt, den nicht das Parlament, sondern der Ortega-Clan verwaltete. Mit diesen Geldern wurden teilweise assistentialistische Projekte finanziert, die jedoch kein Empowerment brachten. Es gibt keine Entwicklungspolitik, alles läuft darauf hinaus, die Macht der führenden Gruppe zu verstärken. Minenkonzessionen werden an ausländische Konzerne verschachert. Erziehung und Gesundheit, die einst vorbildlich waren, haben sich deutlich verschlechtert. Es wurden die Komitees der bürgerlichen Macht und andere Gruppierungen eingerichtet, die an das Blockwartsystem erinnern. Die Stadtteilkomitees führen Listen von Verdächtigen, nachts durchsucht die paramilitärische Polizei die Stadtteile und verhaftet Leute, die sie dann verschwinden läßt. Bislang gab es mehr als 300 Tote und über 1500 Verletzte sowie 230 Vermißte, die dann irgendwann in den Leichenhallen oder auf der Müllhalde auftauchen. Unter Somoza wurden an der Costa de Plomo (Bleiküste) die Ermordeten der Nacht abgelegt. Dieses Symbol der Unterdrückung wird jetzt wieder benutzt. Die Rentner gingen schon frühzeitig auf die Straße und wurden drangsaliert, worüber sich niemand aufregte. Das änderte sich nach einem erneuten Protest am 18. April, da am folgenden Tag ihre Enkel öffentlich dagegen protestierten. Auch sie wurden zusammengeschlagen, doch diese jungen Leute schlossen sich zu einer Bewegung zusammen. Die katholische Kirche nimmt eine Vermittlerrolle ein und stellt die einzige Chance dar, alle an einen Tisch zu bekommen. Inzwischen findet die fünfte Session statt, bei der die Konfliktparteien einander gegenübersitzen. Auf der einen Seite die Regierung Ortega, Teile des Unternehmerverbands, die sandinistische Jugend, der Bauernverband und verschiedene weitere Gruppen. Auf der anderen die sogenannte Zivilgesellschaft, allen voran die Studenten, sowie der überwiegende Teil der Unternehmerschaft, Frauengruppen und Menschenrechtsorganisationen. Bei der ersten Session sagte der Student Léster Alemán dem anwesenden Ortega ins Gesicht, die Studierenden seien ausschließlich hier um zu diskutieren, wann er zurücktritt und das Land verläßt. Dies war ein Signal, das weithin wahrgenommen wurde. Die Regierung sagt zu, ihre Repression einzustellen, aber nichts dergleichen geschieht. Ausländische Beobachter stellten fest, daß die Gewalt ausschließlich von der Regierung ausgeht, während die Studenten unbewaffnet sind. In der deutschen Solidaritätsbewegung gibt es laut Steidinger zum einen jene, die in den glorreichen 80ern stehengeblieben sind. Andere hätten hingegen Kontakt zu Menschen in Nicaragua und wüßten, was dort tatsächlich geschieht. In Hamburg bestehe die spezielle Situation, daß fünf Soligruppen existieren, die einander nicht grün sind. Diese Differenzen konnten leider bislang nicht überwunden werden. Die USA verhalten sich derzeit still, doch haben sie schon vor Beginn des Protests im April ein Gesetz erlassen, das allen Unternehmen die Zusammenarbeit mit Ortega untersagt und finanzielle Mittel blockiert. Kürzlich war eine hochrangige US-Delegation in Managua, dabei soll angeblich auch über Ortegas Abgang gesprochen worden sein. Die Regierung Ortega versucht, den Protest auszusitzen, und hofft, daß sich die Bewegung totläuft. Die ausländischen Organisationen fordern Neuwahlen im März 2019, bei denen Ortega allerdings erneut kandidieren könnte. Er hat ab 1990 in allen gesellschaftlichen Bereichen ein System von Profiteuren aufgebaut, geschätzte 100.000 Menschen sind Nutznießer dieses Systems. Sollte Ortega gehen, würden diese Leute verfolgt, so daß ein weiteres Blutbad drohte. Die Situation sei nicht vergleichbar mit jener in Venezuela, da dort beide Seiten bewaffnet sind. In Nicaragua ist das Militär bislang offiziell in den Kasernen geblieben, es unterstützt aber die Parapolizei und bildet sie aus. Die Streitkräfte sind wie vielerorts in Lateinamerika ein riesiges Unternehmen. Käme es zum Generalstreik, würden sie wohl schon allein zum Schutz ihrer Pfründe eingreifen. Derzeit könne niemand sagen, wie dieser Konflikt ausgehen wird, schloß Jürgen Steidinger seinen Bericht. Der Vorschlag aus dem Kreis der Zuhörenden, diesem Thema einen eigenen Jour Fixe zu widmen, wurde allgemein begrüßt.
Als Lehrling im PVC-Kessel bei BASF Wolfgang Hien las zu den Stationen seines beruflichen und politischen Lebenswegs jeweils einen Auszug vor, der bei Bedarf sofort diskutiert werden konnte. In seiner Lehrzeit bei BASF mußte er als 16jähriger mehrere Tage pro Woche im PVC-Technikum, wo die Herstellung von Kunststoffen erprobt wurde, feste Masse aus riesigen Kesseln herausklopfen. Dies war eine schwere und giftige Arbeit, da monomeres Vinylchlorid ausdampfte, ein narkotisierender und hochgradig krebserzeugender Stoff. Er litt unter Übelkeit und fiel immer wieder in Ohnmacht, worauf ihm die Vorgesetzten erklärten, man gewöhne sich daran. Das seien die Anfangserscheinungen, aber dann härte man sich ab. Der Werksarzt verabreichte ihm hohe Dosen Novalgin und schickte ihn an die Arbeit zurück. Bald galt er als „Simulant“ oder „kränklicher Schwächling“, und diese herablassende Ignoranz habe ihn zutiefst empört. In dieser Zeit habe er einen regelrechten Haß auf Akademiker entwickelt, die seinen Körper gleichsam enteigneten. 1975 erschien das Buch „PVC zum Beispiel“ von Charles Levinson, in dem von schwersten neurologischen Schäden und dem PVC-Krebs der Leber berichtet wird. Dieses Buch habe ihn sehr beeindruckt und bestärkt, das Gesundheitsthema zu seinem biographischen, politischen und beruflichen Hauptanliegen zu machen. Damals ging es gegen die Chlorchemie, in der Folge auch gegen die Pestizide der BASF. Später stieg der Konzern auf stickstoffhaltige Kohlenwasserstoffe um, die angeblich völlig harmlos und abbaubar seien. Hiens Argumentation, daß sich diese Stoffe in die DNA oder die sie umhüllenden Proteine einbauen, wurde als irrelevante Laienaussage abqualifiziert. Heute weiß man das besser. Und so sei es jahrelang weitergegangen. Später war er auch an mehreren Einsprüchen und Bürgerverhandlungen gegen die neuen Chemie- und Gentechnikanlagen der BASF beteiligt. Giftstoffe in der Produktion von Degussa Hien verließ die BASF, fing ein Studium in Heidelberg an, aus dem aber nichts wurde, und fand 1974 Arbeit bei Degussa in Frankfurt. Dort wurden keramische Farben für Kacheln unter Verwendung von Metallsalzen produziert. Dabei handelt es sich um relativ giftige Stoffe, die vor allem im Prozeß des Mischens und des Glühens bei 1200 Grad austraten. Da er sich mit Toxikologie beschäftigt hatte, galt er als Umweltexperte der neuen Betriebsgruppe, die dieses Problem zur Sprache brachte. Insbesondere spanische Arbeiter, die bei Acción Comunista organisiert waren, bestürmten ihn, sich dazu zu äußern. Man brachte die Betriebszeitung („Mitmischer“) heraus, in der beispielsweise die Frage aufgeworfen wurde, ob Degussa den Arbeitern und der Gemeinde Frankfurt die Produktion von Giften verheimlicht. Es stellte sich heraus, daß das Unternehmen längst verbotene Produkte weiter verarbeitete. Dies konnte aufgedeckt werden, weil Hien Zugang zu internen Unterlagen hatte, die er heimlich kopierte oder abschrieb. Er fand erschreckende Meß- und Analyseergebnisse, die dann in Flugblättern mit dem Hinweis veröffentlicht wurden, die Daten kämen aus der Stadtverwaltung oder vom Umweltbundesamt. In Tanks wurden auch radioaktive Strahlen für Füllstandsmessungen verwendet, denen die Arbeiter ungeschützt ausgesetzt waren. Diese Betriebsgruppe war 1974 eine der ersten, die ökologische Bewegung und Arbeiterbewegung thematisch verbanden. Sie berichtete darüber bei bundesweiten Betriebsgruppentreffen. Seine Genossen und er kamen daraufhin auf die schwarze Liste der chemischen Industrie, was dazu führte, daß er selbst in kleinen Chemiebetrieben nicht mehr arbeiten konnte. Auf heißer Platte in der Hattinger Henrichshütte Er zog dann ins Ruhrgebiet um, wo er 1978 im Edelstahlwerk Witten und ab 1979 auf der Henrichshütte in Hattingen beschäftigt war. Dort wurden Panzerbleche gewalzt, die bis zu 10 cm dick, 3 bis 4 m breit und bis zu 10 m lang waren. Es war eine unglaublich schwere Arbeit, da die Bleche rotglühend vom Walzen kamen und – immer noch 500 Grad heiß – einer Qualitätskontrolle unterzogen wurden. Mehrere Kollegen betraten die Bleche mit Holzschuhen, deren Sohlen innerhalb von zwei Schichten wegbrannten. In dieser Hitze wurden die Bleche mit einer 200-Watt-Lampe ausgeleuchtet und auf Walzrisse geprüft, die mit einer Spezialkreide markiert werden mußten. Anschließend mußte eine türkische Mannschaft die Risse mit handgetriebenen Geräten herausschleifen. Neben den weiterlaufenden Blechen ging es 4 m hinab in den Keller, so daß man einen Sturz kaum überlebt hätte. Der Kollege oben auf dem Leitstand war oft ziemlich besoffen. Würde er die Bleche nicht richtig fahren, sondern ruckeln, liefe man Gefahr hinzufallen und sich schwere Verbrennungen zuzuziehen oder gar in die Tiefe zu stürzen. Das waren meine zweieinhalb Jahre bei Thyssen, so der Referent. Theoretisch wäre es möglich gewesen, die gewalzten Bleche zunächst abkühlen zu lassen. Oft fehlte in solchen Werken jedoch schlichtweg der Platz für räumliche Veränderungen. Vor allem aber herrschte eine Betriebskultur vor, die Verbesserungen kaum zuließ. Die Hierarchie in den großen Werken war fast militarisiert, die Stellung des Meisters und um so mehr der höheren Vorgesetzten nahezu unantastbar. Änderungsvorschläge waren tabu und oftmals ausdrücklich verboten, es gab keinen Ansatzpunkt, mit den Kollegen über Veränderungen der Produktionsstruktur zu diskutieren. Arbeitswissenschaft an der Bremer Uni In den 80er Jahren bekam Hien in Heidelberg eine halbe Stelle als Chemielaborant in der Krebsforschung, die sich mit Industriechemikalien befaßte. Zu dieser Zeit fanden die Gesundheitstage statt (Berlin 1980, Hamburg 1981, Bremen 1984), auf denen er mit namhaften Leuten Kontakt bekam, die sich vor allem an der Uni Bremen als politisch engagierte Arbeitsmediziner mit dieser Problematik befaßten. Auf Anregung Rainer Müllers studierte er Arbeitswissenschaft in Bremen und schrieb seine Doktorarbeit über Berufskrankheiten in der chemischen Industrie und in der Landwirtschaft. Es folgten Projektstellen an der Bremer Uni, wo er mit der Handwerkskammer zusammenarbeitete und zugleich einen Touch der roten Uni erlebte. Dem Anspruch folgend, die Arbeiterklasse zu unterstützen und Vertrauensleuten aus den Betrieben zu helfen, führte man Anfang der 90er Jahre auf entsprechende Anfragen hin ehrenamtlich Gespräche mit Betriebsräten, Hauptamtlichen der Gewerkschaft und Vertretern des Bremer Senats. Die Existenz der Stahlwerke war ständig gefährdet, die Klöckner-Hütte wurde an einen luxemburgischen Konzern verkauft, dann an einen französischen, dann an einen belgischen (Arcelor) der wiederum Teile an den weltgrößten Stahlkonzern Mittal aus Indien veräußerte. Stets unter der Vorgabe, das Bremer Werk würde geschlossen, sofern es sich nicht modernisierte, kamen Dutzende Wissenschaftler von diversen Unis und Instituten, die den Betriebsrat beraten sollten. Beim Thema Gesundheit ging es um Schichtarbeit, Lärm, Stäube und Hitze am Hochofen. Doch wir wurden verarscht, bilanziert Hien. Der Betrieb ließ sich zwar beraten, schlug aber mit anderen Beratern einen katastrophalen Weg ein. 2001 wurde ein „Fit-Programm“ entwickelt, das darauf angelegt war, eine olympiareife Belegschaft herauszuselektieren und sich von all denen zu trennen, die etwas älter oder chronisch angeschlagen waren. Diese wurden über Zwischenschritte wie eine Beschäftigungsgesellschaft ausgegliedert. Es dominierte die Standortlogik. In jeder Abteilung wurden große Lichttafeln aufgestellt, auf denen stets der aktuelle Leistungsstand angezeigt und der Vergleich mit anderen Arcelor-Werken weltweit gezogen wird. Die IG Metall hat sich vollkommen dafür einspannen lassen. Als Hauptamtlicher beim DGB-Bundesvorstand Da die Projektstellen befristet waren, oftmals ein halbes Jahr Arbeitslosigkeit folgte und neue Anträge gestellt werden mußten, kam ein Anruf im Herbst 2002 nicht ungelegen, ob Hien Hauptamtlicher beim DGB-Bundesvorstand werden wollte. Sie wollten einen promovierten Arbeitswissenschaftler, der eigenständig Gesundheitsprojekte entwickelt, Gesundheitsschutzkonzepte weiterentwickelt und das Thema in allen wichtigen Ausschüssen aufgreift. Auch mußte er den DGB in Gremien vertreten, die zusätzlich geschaffen wurden, darunter die Expertenkommission Bertelsmann-Böckler zur betrieblichen Gesundheitspolitik. In dieser Kommission saßen 15 Professoren sowie rund 25 hochrangige Gewerkschafter und Arbeitgebervertreter, manche in Personalunion. Ziel war eine Gesundheitspolitik im Dienst der Standortlogik, um in der internationalen Konkurrenz zu bestehen. Hien widersprach und trat für Gesundheit als Menschenrecht ein, was einen Tumult auslöste. Das schöne Miteinander war gestört: Wolfgang, wir sind in den besten Hotels, wir haben das beste Essen, wir kriegen den besten Wein, man hat nette Gespräche, und du bringst das alles durcheinander, so ein Kollege. Hien hielt eine Ansprache über prekäre Arbeit, über Leiharbeit, Dumpinglöhne und Lkw-Fahrer ohne Sozialversicherung, was die ehrenwerten Kommissionsmitglieder schwer irritierte. Dennoch wurden Teile in den Abschlußbericht aufgenommen, bei dessen Fertigstellung die Arbeitgeberverbände ohne Diskussion absprangen, was zu neuen Verwerfungen führte. Vertreter von ver.di sprangen auf den Begriff „Employability“ auf und erklärten, es sei Ziel gewerkschaftlicher Arbeit, die Beschäftigungsfähigkeit der Menschen zu sichern. Dagegen bezog Hien Stellung und erklärte, der DGB könne diese Forderung nicht unterschreiben: Wir sind als Gewerkschaften nicht dazu da, die Menschen fit zu machen, sondern alle Menschen, so wie sie sind, zu verteidigen, auch die langsamen, die chronisch kranken. Wir brauchen eine Arbeitswelt, in der diese Menschen ihren Platz finden und leben können. Ver.di reichte beim DGB-Bundesvorstand eine Beschwerde über ihn ein, er bekam wieder Ärger und es hieß, er müsse klein beigeben oder wenigstens diplomatischer sein. Er weigerte sich jedoch und konnte wenigstens durchsetzen, daß der Begriff „Employability“ im Abschlußbericht nicht enthalten war. Der Bericht wurde in großer Auflage gedruckt, aber kaum verteilt und versandete. Wolfgang Hien hielt es dann noch ein Jahr beim DGB aus, bis es zum Zusammenbruch kam. Er verließ den DGB Mitte 2005 und hat seinen alten Arbeitsplatz nicht mehr betreten – bis vor kurzem. Kolleginnen und Kollegen aus dem bundesweiten Arbeitskreis Arbeitsmedizin des DGB und der IG Metall wollten ihn anläßlich einer Sitzung bei seiner Nach-Nachfolgerin gerne dabeihaben. Diese sagte ihm bei dieser Gelegenheit, sie sei keine Arbeitswissenschaftlerin, was vieles erleichtere, weil sie manches auch gar nicht verstehe. Sie sei aber im Gewerkschaftsapparat großgeworden und habe gelernt, diplomatisch zu sein, was ihm offensichtlich abgehe. Wie er gehört habe, habe auch sie sich inzwischen krank gemeldet. Die Vorstandsebene im DGB sei immer tendenziell in der Regierungspolitik mitgeschwommen. Damals gab es tägliche Telefonate mit dem Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement, der eine Entbürokratisierung und eine Verschlankung der Arbeitsstättenverordnung verlangte: Die sollte ich mittragen, doch ich weigerte mich, weil ich mit dieser Großpolitik, die im Hintergrund der Taktgeber war, nicht mitgehen wollte. So sitze ich hier und bereue das nicht, schloß Wolfgang Hien. Mit der IG Chemie auf Kriegsfuß Unter den Fragen, die zwischen den einzelnen Abschnitten der Lesung und am Ende angeregt diskutiert wurden, spielte die Einschätzung der Gewerkschaften eine prominente Rolle. Wie der Autor dazu ausführte, ziehe sich die Kontroverse gerade mit der IG Chemie wie ein roter Faden durch das Buch. Degussa war fast zu 100 Prozent gewerkschaftlich organisiert, und die IG Chemie wählte sie stets für Warnstreiks und andere Aktionen aus. Der Betriebsratsvorsitzende wußte, daß verbotene Stoffe verarbeitet wurden, deckte jedoch diese Praxis. Weil die Betriebsgruppe diese Zustände thematisierte, hatte sie die betriebliche Gewerkschaft gegen sich. Bei BASF wußten die Betriebsräte, daß bei Arbeitern Chromosomenanalysen durchgeführt wurden, informierten die Beschäftigten aber nicht darüber. Die Gewerkschaft wußte Bescheid, machte sich aber mit dem Kapital gemein und suchte undichte Stellen, um die Betreffenden rauszuschmeißen. Dabei hatte die IG Chemie bis 1971 eine eher fortschrittliche, reformerische Führung gehabt, die bereits vor dem offiziellen Humanisierungsprogramm, das 1972 anlief, entsprechende Projekte wie Schichtarbeit auf die Agenda setzte. Dies führte zu Konflikten mit den starken Betriebsräten bei BASF, Hoechst und Bayer. 1971 ging der große Streik in der chemischen Industrie verloren, weil erhebliche Teile der Belegschaften als Streikbrecher einsprangen. Da schlug die Stunde Hermann Rappes, der in der Folge Vorsitzender der IG Chemie wurde: Wir können keine Gewerkschaftspolitik gegen die Interessen der Großchemie betreiben. Wir müssen korporatistische Politik machen. Humanisierung war ein ideologischer Begriff, man hat versucht, den Arbeitsschutz ein wenig zu verbessern, doch am Schichtmodell (12 Stunden) wurde nicht gerührt. Ein weiterer Versuch scheiterte 1977 am Widerstand der Beschäftigten, von denen viele nebenbei Landwirtschaft betrieben und ihre Freischichten brauchten. Wenngleich es innerhalb des hauptamtlichen Apparates der Gewerkschaften immer auch kritische Stimmen gab, stelle sich die Frage, wo sie geschwiegen haben. So haben Kritiker von Hartz IV beim DGB eine bestimmte Linie nicht überschritten, da sie sich nicht mit dem Vorstand anlegen wollten. Die Kernbelegschaften der Großbetriebe waren für Hartz IV, Kritiker kamen aus den kleineren Gewerkschaften, Kirchen und Arbeitslosengruppen. Es existierte eine starke politische Abhängigkeit von der SPD, wobei die Grünen noch weniger unternahmen und sich wegduckten. Wie der Referent hervorhob, wünsche er sich wieder ein Diskussionsklima, in dem man über Selbstverwaltung der Betriebe durch die Belegschaft sprechen könne. Eine solche Wirtschaftsweise könne jedoch nicht auf dem aktuellen Niveau von Leistung und Ausbeutung herbeigeführt werden, sondern müsse auf ein mittleres Maß an Einkommen und Wohlstand zurückgefahren werden. Risse im Monolithen der Arbeiterkultur Bei der Öffnung für die Problematik von Giftstoffen in der Produktion stellte Seveso 1976 eine Zäsur dar, die in die klassischen Arbeiterkulturen hineingewirkt hat. Die erschreckenden Bilder ließen sich nicht so leicht abschütteln. 1982 dann die dänische Malerkrankheit im Stern, Fernsehsendungen über die Quecksilbervergiftung in Marktredwitz erreichten ein breiteres Publikum. In Hamburg wurden die Skandale um Stoltzenberg in Eidelstedt (Munition) und Boehringer in Billstedt (Dioxin) weithin wahrgenommen. Ansätze, die Umweltbewegung in die Betriebe hineinzutragen, hatten beträchtliche Widerstände zu überwinden, der Bewußtseinswandel in den Gewerkschaften verlief zögerlich. Inzwischen ist gesundes Essen und Leben ein kapitalistischer Markt geworden, und so kommt es zu paradoxen Wirkungen in der klassischen Arbeiterkultur, die in sich gebrochen ist und immer wieder neue paradoxe Effekte zeitigt. So beschäftigt die chemische Produktion heute nur noch qualifizierte Angestellte, und diese gehen dann nach dem Schichtende zum Joggen, was früher unvorstellbar gewesen wäre. Ein vielbeachtetes Moment stellte die italienische Arbeitermedizin in ihrer Hochzeit zwischen 1973 und 1977 dar, die auch in Deutschland große Beachtung fand. In Norditalien entstanden Basisgruppen in vielen Betrieben, oppositionelle Medizinstudenten und die Antipsychiatriebewegung kamen hinzu. Es wurden Kämpfe ohne und gegen die Kommunistische Partei und die Gewerkschaften geführt, militante Gruppen von Chemiearbeitern schlossen sich teils mit den Roten Brigaden zusammen. Ein Dutzend Manager wurde umgebracht, das Militär besetzte die Betriebe, viele aktive Arbeiter kamen ins Gefängnis. Wolfgang Hien verwies auf sein Buch „Die Arbeit des Körpers“, in dem er die Körperkultur thematisiert, die von der Arbeiterbewegung selbst mitgetragen wurde. Lobeshymnen vermittelten das Körperbild des Arbeitshelden, Initiationsriten wie die Jugendweihe in der sozialistischen Bewegung konditionierten die männlichen Jugendlichen: Du bist kein Faulenzer, sondern ein starker Arbeiter, du hast Kraft, du drehst die Räder und hältst sie an. Dieses Körperbild wurde seitens der bürgerlichen Klasse zusätzlich aufoktroyiert, das Medizinsystem forcierte die Typisierung bis hin zum „Schwächling“. Ein ehemaliger Betriebsrat von Daimler Benz, der sich stets für die Interessen der Arbeiter eingesetzt hatte, sagte dem Autor im Interview: Wenn du beim Benz arbeitest, mußt du ein harter Kerl sein. Wenn du kein harter Kerl bist, hast du beim Benz nichts zu suchen. So haben wir das gesehen. Nach der Bedeutung von Solidarität gefragt, berichtete Wolfgang Hien, er habe in seinem Leben glücklicherweise an allen Stationen seiner Arbeitstätigkeit, angefangen von der Lehrzeit bis hin zum DGB, immer wieder eine ursprüngliche Solidarität erlebt. Für ihn sei das eine Grundkategorie des solidarischen Gefühls, das jeder Mensch brauche, weil wir keine Einzelwesen, sondern Gemeinschaftswesen sind und ohne zwischenmenschliche Unterstützung nicht auskommen. Auch habe er stets einen persönlichen Freundeskreis um sich gehabt, von dem er aufgefangen wurde und der ihn stabilisiert habe. Mit Blick auf die internationale Solidarität seien mindestens zwei Bereiche in seinem Leben besonders wichtig. Er war in der Brasiliensolidarität am Aufbau von Chemiegewerkschaften in Zweigbetrieben der BASF beteiligt und ist in Südafrika gewesen, wo eine giftige Chromfabrik, die in Leverkusen demontiert worden war, in Durban wieder aufgebaut wurde. Auf Einladung der dortigen Gewerkschaften nahm er an einem Kongreß teil, und aus diesem Erfahrungsaustausch erwuchsen langfristige Verbindungen. Er halte es für unverzichtbar, Menschen in anderen Ländern zu unterstützen. Wenn er sehe, wie in den Minen Südafrikas oder in den Textilfabriken Bangladeschs gearbeitet wird, sei für ihn unmittelbar klar, daß wir alles tun müssen, damit diese internationale Arbeiterinnen- und Arbeiterklasse solidarisch zusammenwächst. Fußnoten: [1] Wolfgang Hien: Die Arbeit des Körpers. Eine kritische Arbeitsgeschichte von der Hochindustrialisierung in Deutschland und Österreich bis zur neoliberalen Gegenwart, mandelbaum kritik & utopie, Wien 2018, 344 Seiten, 25 Euro, ISBN: 978385476-677-3 [2] http://www.gewerkschaftslinke.hamburg [3] http://www.wolfgang-hien.de [4] Wolfgang Hien, Peter Birke: Gegen die Zerstörung von Herz und Hirn. „68“ und das Ringen um menschenwürdige Arbeit, VSA Verlag, Hamburg 2018, 256 Seiten, 22,80 Euro, ISBN 978-3-89965-829-3 [5] http://www.kitra-kindertraeume.org