Haben die Gewerkschaftsausschlüsse vor 50 Jahren heute noch eine Bedeutung?

Haben die Gewerkschaftsausschlüsse vor 50 Jahren heute noch eine Bedeutung?

Von Alwin Altenwald

Die Älteren von uns erinnern sich noch an die Gewerkschaftsausschlüsse der 1970er Jahre. Auch einige von uns oder aus unserem Kollegenkreis waren betroffen.

Grundlage dieser Ausschlüsse waren die Unvereinbarkeitsbeschlüsse der IG Druck und Papier, der IG Metall, kurz darauf nachziehend vom DGB von 1974. Hunderttausende junger Männer und Frauen waren durch die Jugend-/Studentenbewegung politisch aufgewacht, tausende waren in die Betriebe gegangen, nicht nur um den Betriebsalltag zu verändern sondern auch die Gesellschaft. Sie waren meistens Mitglieder der K-Gruppen.
Wohl die anschaulichste Schilderung über die Jugendbewegung dieser Zeit finden wir bei: Jan Ole Arps. Frühschicht. Linke Fabrikintervention in den 70er Jahren.

„50 Jahre danach“ sind jetzt ein Anlaß, sich dieser Zeit zu erinnern, für Dabeigewesene und Historiker. Holger Artus, früher Betriebsratsvorsitzender der Hamburger Morgenpost hat dazu Hartmut Simon interviewt, den Leiter des Archivs der ver.di Bundesverwaltung.
Die Gewerkschaftsausschlüsse vor 50 Jahren: Ein Klima der Verunsicherung und des Misstrauens entstand
Im Gespräch mit Hartmut Simon, Historiker und Leiter des Archivs der ver.di Bundesverwaltung, über die Ausschlüsse aus den Gewerkschaften in den 1970er Jahren
https://hamburg.verdi.de/++co++a2589268-0d25-11ef-9a2f-93dc77a9116a?fbclid=IwZXh0bgNhZW0CMTEAAR2p7x_cu9twYapTI8SpVq6dj2OQsmtd_eGzR3HKCXLXKJMW_eErdFlQfYc_aem_Af-8cuxADLeiFFQc48L-Nhv1grEMLiQno6BeimDxVK9WIUlohro8FyMzpq-dz6vaixngLt_niy1wK9-jrJimXoKO
Wenn Hartmut Simon im Historiker-Jargon schreibt: „In den 70er Jahren traten vermehrt junge Akademikerinnen und Akademiker den Gewerkschaften bei, um politische Veränderungen auch über die Gewerkschaften zu befördern. Stichworte: Frauenbewegung, Friedensbewegung, Umweltbewegung. Sie trafen auf die große Gruppe der Arbeiterinnen und Arbeiter, denen es vornehmlich um reale Verbesserungen ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen ging“, so hat er das nur annähernd richtig beschrieben: Nicht nur junge AkademikerInnen gingen in die Betriebe, Tausende gingen nach dem Abitur in der Betriebe oder brachen ihre Studien ab. Sie wollten „Revolution machen“. Es war aber im Wesen keine Studenten- sondern eine Jugendbewegung, auch wenn sich die Medien auf einige bekannte Studentenführer stürzten. Sie trafen in den Betrieben auf junge Kollegen, bei denen sie Resonanz fanden in den Konflikten mit der Gewerkschaftsbürokratie und Strukturen in den Betriebsräten.

Holger Artus fragt Hartmut Simon zu den ausgeschlossenen KollegInnen aus Hamburg: „Die Mehrheit (der damals Ausgeschlossenen. Der Verfasser) war wieder bei den Arbeitskämpfen damals und war sauer, wie mit ihnen umgegangen wurde. Sie haben es nicht vergessen und trotz ihrer heutigen Mitgliedschaft ist die Wut geblieben. Was meinst du, muss man das Thema noch einmal „aufkochen“?
Beide gehen in dem Interview leider nicht auf die konkreten Massenausschlüsse des Hamburger IG Druck und Papier Vorstands im Jahre 1974 ein!
Diese werden jedoch gut beschrieben im Rotbuch zu den Gewerkschaftsausschlüssen. (649 Seiten). Verlag J. Reents
Dort zum Massenausschluß aus der IG Druck und Papier in Hamburg: Der erste Masssenausschluß. Hamburg Juni 1974. Seite 454 bis Seite 479.

Diesen Massenausschluß habe ich damals miterlebt.
Zu einer Delegierten-Versammlung, an der auch Mitglieder teilnehmen konnten, in der es um den Ausschluß von zwölf Kolleginnen und Kollegen ging kamen etwa 500 KollegInnen! (Damals gab es noch einen derartig großen Raum im Gewerkschaftshaus!). Die Ausgeschlossenen waren alle Mitglieder von K-Gruppen, sie durften an der Versammlung laut Satzungsrecht nicht mehr teilnehmen!
Diese Versammlung war mich für das wohl eindrucksvollste gewerkschaftliche Erlebnis! Warum?
Vorspiel: Der stellvertretende Vorsitzende Günter Metzinger, hatte am 16.6.1974 hinter einem Busch gestanden, als sich etliche Drupa-Mitglieder, die meisten aus verschiednen K-Gruppen, in der Gaststätte „Z“ (Ecke Feldstr./Karolinenstr.) trafen, um über die laufende Tarifrunde zu diskutieren. Metzinger fotografierte die KollegInnen. Seine Bilder waren für den Vorstand der Drupa der Beweis für den Ausschluß. (Nebenbei: Metzinger bereute viele Jahre später sein Handeln und schämte sich!). Der Vorsitzende der Hamburger Drupa war Heinz Wolf, ein ehemaliger Drucker. Mit Rückendeckung des Bundesvorstandes schloß der Vorstand der Hamburger Drupa die zwölf KollegInnen aus.
Als Heinz Wolf den Ausschluß der KollegInnen auf der Delegierten-Versammlung verkündete und begründete, erntete er lautstarken Protest der Versammelten. Unter den Delegierten hatte der Vorstand zwar seinen Anhang, aber fast keines der anwesenden Mitglieder war mit dem Ausschluß einverstanden. Heinz Wolf begründete den Ausschluß mit dem Argument, die Ausgeschlossenen seien „Söhne und Töchter aus gutbetuchtem Hause“. Mit dem Argument wollte Wolf spalten.
Nach ihm ging Jupp Bergmann ans Mikrophon, ein Drucker aus einem Hamburger Kleinbetrieb. Jeder kannte ihn seit Jahrzehnten von seinen Auftritten und aus Diskussionen. Der Kollege Bergmann nahm die Ausgeschlossenen in Schutz, erinnerte an die Anfänge der Arbeiterbewegung, daß Friedrich Engels als Sohn gutbetuchter Eltern die Tuchfabrik seines Vaters in England leitete. Er begrüßte es, daß junge KollegInnen aus der Mittelschicht in die Betriebe gingen und gewerkschaftlich aktiv wurden, das stärke den Kampf gegen die Kapitalisten. Damit sprach er den Klasseninstinkt der KollegInnen an.
Ich habe nie wieder eine derartige Begeisterung und Zustimmung auf einer Gewerkschaftsversammlung miterlebt.
Heinz Wolf war mit seinem Spaltungsversuch vollkommen gescheitert, er hatte nur die Delegierten mit SPD- oder DKP-Parteibuch hinter sich. Für den bereits beschlossenen Ausschluß brauchte er laut Satzung weder eine Mehrheit der Delegierten noch der Mitglieder!

Die jungen idealistischen Männer und Frauen, die in die Betriebe gingen, stießen schnell auf das Mißtrauen und bald auch Widerstand der Gewerkschaftsapparate. Der hatte durchaus auch seinen Anhang bei KollegInnen.

Alle 16 DGB-Gewerkschaften praktizierten damals schon Sozialpartnerschaft mit der Kapitalseite. Diese Praxis sahen sie durch die neuen KollegInnen gefährdet, die durchaus Anhänger fanden, besonders in der jüngeren Generation. Die Gewerkschaftsausschlüsse, basierend auf den Unvereinbarkeitsbeschlüssen, gingen oft einher oder Hand in Hand mit Berufsverboten, entsprechend dem „Radikalenerlaß“ der Brandt-Regierung. (Jahrzehnte später erklärte Brandt das als politischen Fehler!). Gewerkschaftsapparate und Verfassungsschutz spielten sich die Bälle zu.

Einige Gewerkschaften machten sich daran, die eigene Geschichte nach der 68er Bewegung aufzuarbeiten. So beauftragte der GEW-Hauptvorstand damit Dr. Marcel Boist, einen Hamburger Historiker. Der sagt in einem Interview mit Holger Artus: „Bereits der Gewerkschaftstag im Jahr 2013 bezeichnete den Unvereinbarkeitsbeschluss als „schwerwiegenden politischen Fehler“ und die Ausschlüsse als „schwere Verstöße gegen den Grundsatz gewerkschaftlicher Solidarität“….Ferner hatte mich der Hauptvorstand beauftragt eine Liste aller Personen zu erstellen, die von den verschiedenen Maßnahmen betroffen waren, die mit den Unvereinbarkeitsbeschlüssen einhergingen – also von Gewerkschaftsausschluss, Nichtaufnahme oder verweigertem Rechtsschutz. All diesen Personen hat die GEW schriftlich um Entschuldigung gebeten, ihnen eine beitragsfreie Mitgliedschaft und eine „Anerkennungspauschale“ angeboten“ https://hamburg.verdi.de/gewerkschaftsausschluesse-der-1970er-jahre/++co++18f5cd9e-12c3-11ef-8410-81a9e130e650?fbclid=IwZXh0bgNhZW0CMTEAAR3iQy1HJ1P7eJR7kjiK911Elbh2v7WvJGAPPsl0O1VR4Kx_QjvRh5EsJ0A_aem_Af_Hl7GU_1tfwttxYIg7eIgOmjOSyhUxnvPvkk_paw8Pz6OuMJHe5PeXcQ-UmJfbWwWdiAdlHRx5nFG57AWvz02g

Wenn man sich die Frage stellt: „Haben die Gewerkschaftsausschlüsse vor 50 Jahren heute noch eine Bedeutung?“, so ist die Antwort ein eindeutiges JA!
Denn die Politik der DGB-Vorstände hat sich in den letzten 50 Jahren nicht geändert, sie machen weiter Sozialpartnerschaftspolitik, mehr denn je. Allerdings gibt es heute keine linke Jugendbewegung mehr, die Einfluß in den Betrieben und damit in den Gewerkschaften gewinnt, also sind Gewerkschaftsausschluesse-heute fast überflüssig geworden und erst recht Massenausschlüsse oder der Ausschluß ganzer Landesverbände wie zB des GEW-Landesverbandes West-Berlin.

Daß die Vorstände der DGB-Gewerkschaften heute noch stärker kapital- und regierungshörige Politik betreiben als vor 50 Jahren, zeigte sich in der kritiklosen Unterstützung der Corona-Maßnahmen der Bundes- und Landesregierungen. In ihrer Unterstützung der Kriegs- und Aufrüstungspolitik von Scholz, Pistorius und Bärbock. Und in der regierungshörigen Staatsraison gegenüber dem Völkermord in Palästina.
Seit Jahrzehnten, nicht erst seit seit der Agenda-Politik der Schröder-Fischer-Regierung, werden die DGB-Gewerkschaften, nicht nur zahlenmäßig immer schwächer.
In diesem Niedergang gilt es sich als Gewerkschaftsopposition zu organisieren – durch eine „qualitative Vernetzung“:
Qualifizierte Vernetzung – die richtige Form für den Klassenkampf heute!
https://gewerkschaftslinke.hamburg/2019/06/22/qualifizierte-vernetzung-die-richtige-form-fuer-den-klassenkampf-heute/

Erst wenn diese Opposition so stark wird, daß sie dem staatstragenden Führungspersonal der DGB-Gewerkschaften gefährlich erscheint, weil sie massenhaft Einfluß an der Basis gewinnt, wird man wieder zu Ausschlüssen von „Rädelsführern“ und Massenausschlüssen greifen, wieder Hand in Hand mit dem Staatsapparat.
Die Erstarkung der Gewerkschaftsopposition ist der wirksamste Weg, die AfD zu bekämpfen. Von den Apparaten der DGB-Gewerkschaften enttäuschte KollegInnen werden sich dann nicht mehr der AfD zuwenden sondern bei der linken Gewerkschaftsopposition!
Aber auch jetzt sehen wir, wie gegen einzelne Kollegen aus dem Apparat vorgegangen wird, zB gegen Orhan Akman beim ver.di Bundesvorstand. Er strebt eine klassenkämpferische Gewerkschaftspraxis und dazu eine Änderung der ver.di-Strukturen an. Er wird juristisch bekämpft durch Kündigungen und schikaniert durch die Versetzung von seinem Arbeitsgebiet. Er wird an seinem Arbeitsplatz nur durch die Arbeitsgerichte gehalten, leider noch nicht durch die Kraft von aktiven GewerkschaftskollegInnen an der Basis.
Bei der Formierung der Opposition ist es falsch, wenn jetzt ungeduldige KollegInnen auf eine RGO orientieren, eine Wiederauflebung von einem fatalen Organisationsmodell in der Weimarer Zeit. Das schwächt den aktuellen Formierungsprozeß.

Die DGB-Gewerkschaften werden dieses kapitalistische System mit Zähnen und Klauen verteidigen gegen eine sich organisierende Opposition! Sie werden nicht argumentieren: „Wir verteidigen das kapitalistische System“ sondern „Wir verteidigen die Demokratie“.
Die DGB-Gewerkschaften haben sich eingerichtet in diesem kapitalistischen System, haben eine Rolle zugeteilt bekommen mit vielen Privilegien, die sie auf keinen Fall verlieren wollen. Sie sind zu Partnern von Kapital und Staat geworden, deren Interessen für sie vorrangig sind vor denen ihrer Mitglieder.
Wir sagen: Wir haben keine wirkliche sondern nur eine formale Demokratie. Die parlamentarische Demokratie ist die Herrschaftsform des Kapitals. (Die wir allerdings jedem Polizei- oder Militärstaat vorziehen!!). Und wir verteidigen die Inhalte dieser formalen Demokratie, die der Bevölkerung/Arbeiterklasse vor 75 Jahren mit dem Grundgesetz zugestanden wurden(*). Auch wenn das Grundgesetz bis jetzt schon 200 Mal verändert wurde im Sinne der kapitalististischen Ausrichtung des Staates und es sich immer mehr entfernt von den Idealen des Anfangs als sogar noch Kommunisten und Antifaschisten den Urtext mit formulierten.
Aber wir kämpfen für eine Demokratie, die erst dann verwirklicht ist, wenn die Werteschaffenden in der Gesellschaft, das Proletariat, die Macht hat, also Eigentümer der Produktionsmittel sind.

Die Führungen der DGB-Gewerkschaften und die Gewerkschaftsapparate verbünden sich mit Regierungs- und Kapitalsverbände und mit schein“radikal“linken Gruppen wie Antifa, Hamburger Bündnis gegen Rechts und gehen gegen diese Gewerkschaftsopposition vor. Mit dem Ergebnis von Denunziationen und Raumentzügen. Wie zB, daß dem Jour Fixe Gewerkschaftslinke nach 19 Jahren vom Vorstand der GEW Hamburg der Tagungsraum für die monatlichen Jour Fixe entzogen wurde (**) wie auch dem Hamburger Forum und Palästina-Gruppen. So ist der Stand der Repressionspolitik der DGB-Gewerkschaftsführungen.

Wer sich ein Bild über das Gewerkschaftsleben und -kämpfe der 70er Jahre machen möchte, kann hier stöbern. Hochinteressant!
https://www.mao-projekt.de/BRD/NOR/HBG/Hamburg_DP_Auerdruck.shtml

Wer sich über die Entwicklung der DGB-Gewerkschaften seit 1945 informieren will, möge bitte dieses Referat lesen:
Wie die Faust in eine Bettelhand verwandelt wurde – Zur Entstehung des DGB nach 1945
Von Uwe Gertz
https://www.reso.media/wie-die-faust-in-eine-bettelhand-verwandelt-wurde-zur-entstehung-des-dgb-nach-1945/

(*) „Eine neue Etappe der Repression“
Am 75. Jahrestag des Inkrafttretens des Grundgesetzes ist Deutschland auf dem Weg in eine autoritäre Formierung: Die Kriege in der Ukraine und in Gaza bringen in der Bundesrepublik zunehmend Ausgrenzung und Repression hervor.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9566

(**) Gewerkschaftliche Linke Berlin zu Raumentzug von Jour Fixe
https://gewerkschaftliche-linke-berlin.de/das-letzte-treffen-vom-jour-fixe-gewerkschaftslinke-am-7-6-23-212-jour-fixe-thema-seit-11-jahren-solidaritaetsgruppenaustausch-griechenland-deutschland-kolleginnen-aus-griechenland/

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