Der kurze Herbst der Utopie in der DDR und die Betriebskämpfe gegen Enteignung und Treuhand ab 1990
mit Bernd Gehrke* (Berlin)
Am 9.November 2019, dem 30. Jahrestag der Öffnung der Berliner Mauer, wird wie in all den Jahren seitdem vorher, viel über die Demonstrationen in Leipzig, Berlin oder anderswo gesprochen werden – und natürlich über die „versehentliche“ Maueröffnung selbst. Aber niemand feiert die erste betriebliche Basisgruppe oder die erste gelungene Absetzung eines Werkleiters durch den Druck der Belegschaft.
Für die Beschäftigten der DDR-Betriebe waren die Wochen und Monate zwischen dem Oktober 1989 und dem Frühjahr 1990 ereignisreicher und aufregender als es die Geschichtsschreibung vermuten läßt. In dieser Zeit des Machtvakuums, – der FDGB war in eine „Schreckstarre“ gefallen und der DGB stand noch nicht vor der Tür- diskutierte man selbstbewußt in den Betrieben Strukturen und Inhalte demokratischer Interessenvertretungen, die der Basis mehr Einfluß bringen sollten. zukommen lassen sollten, als es derzeit Praxis ist. Es gab 1989 nicht nur auf den Straßen den „kurzen Herbst der Anarchie“ sondern auch in den Betrieben.
Vor diesem Hintergrund wird der Kollege Gehrke sowohl den kurzen Herbst der Utopie als auch den sich 1990 entwickelnden Widerstand gegen die Übernahme durch die Treuhand in Betrieben und den DDR-Bezirken schildern.
Er wird dabei die betrieblichen Aktivitäten der verschiedenen Bürgerrechtsgruppen und der Initiative für unabhängige Gewerkschaften behandeln.
Von diesem Geschehen bekamen wir in der BRD durch unsere Medien kaum was mit, außer dem Hungerstreik der Kalikumpels 1993 von Bischofferode.
(*) Kurze Lebensbeschreibung des Referenten
Nach seiner Ausbildung zum Elektromonteur studierte Bernd Gehrke an der Karl Marx Uni in Leipzig Ökonomie. Er wurde Mitglied der SED, war bis 1975 FDJ-Sekretär in Berlin-Mitte.
Im Januar 1978 folgte sein Ausschluss aus der SED wegen „staatsfeindlicher Gruppenbildung“. Es folgte ein Berufsverbot. Ab 1984 arbeitete er als Ökonom im Möbelkombinat Berlin.
Ab ihrer Gründung im September 1989 war er in der Vereinigten Linken (VL) aktiv und für sie am Zentralen Runden Tisch beteiligt.Am 8. Januar 1990 trat er als Vertreter der VL am Zentralen Runden Tisch zurück. Von Mai bis August 1990 war er Sprecher der VL.
Nach der Deutschen Wiedervereinigung war Bernd Gehrke im Bündnis kritischer Gewerkschafterinnen Ost/West aktiv.