Erklärung der „Nicaragua Solidarität Berlin“

Wandbild
„Durch Dich, geliebter Junge, und durch Deine starken Aufrufe, haben die Mütter der Nation sich mit Mut bewaffnet!“ Foto: Simón Terz

Gegen die Unterdrückung und Kriminalisierung der Protestbewegung

Für ein freies und sozial gerechtes Nicaragua

In Nicaragua revoltieren seit April 2018 große Teile der Bevölkerung gegen die Regierung des Präsidenten Daniel Ortega. Er und seine omnipotente Gattin Rosario Murillo, die seit Januar 2017 auch Vizepräsidentin ist, beantworten die Revolte mit brutaler Gewalt, die kaum jemand für möglich gehalten hat. Der Staat mordet, inhaftiert, verfolgt.
Geplante soziale Einschnitte bei der Rentenversicherung waren der letzte Anlass für die Revolte. Student*innen ergriffen die Initiative, Bauern, Bäuerinnen, kleine Gewerbetreibende und Bewohner*innen städtischer Armenviertel schlossen sich an. Die Protestbewegung ist breit und vielfältig. Auch die Unternehmerverbände stellten sich auf die Seite der Opposition, die katholische Kirche versucht zwischen Protestbewegung und Regierung zu vermitteln. Letztere tritt den Protestierenden mit massiver Gewalt entgegen. Es ist wie ein Alptraum aus vergangener Zeit: Die Polizei wird als bewaffneter Stoßtrupp gegen die Bevölkerung eingesetzt. Paramilitärs, Heckenschützen und gekaufte Schläger führen „Säuberungen“ im Staatsauftrag durch. Gezielte Kopfschüsse, Verhaftungen und Verfolgung. Verwundeten wird die Notversorgung in Krankenhäusern verweigert, Maskierte durchkämmen Viertel und Häuser. Mehr als 400 meist junge Menschen wurden getötet, Tausende verletzt, viele wurden entführt, gefoltert und blieben verschwunden. Die Regierung verteufelt die Protestierenden als Terroristen und kriminalisiert sie mit einem eigens beschlossenen Antiterrorgesetz. Nicaraguanische und internationale Menschenrechtsgruppen klagen die Regierung schwerster Menschenrechtsverletzungen an. Durch die Auswirkungen der aktuellen politischen Situation auf die wirtschaftliche Aktivität sind zudem viele Menschen schon jetzt in noch größere existentielle Not geraten.
In Nicaragua wurde 1979 der Diktator Somoza durch einen Volksaufstand vertrieben. Es begann das Experiment einer sozialen Revolution, die weltweit viele Menschen bewegte und praktische Solidarität auslöste. Die historische Errungenschaft der sandinistischen Bewegung und Regierung, mit der traditionellen Rolle der staatlichen Repressionsapparate gebrochen zu haben, war einzigartig in Lateinamerika. Armee und Polizei sollten kein Instrument der herrschenden Clique zur Sicherung ihrer Pfründe mehr sein und nie wieder die Bevölkerung unterdrücken. Nicaragua galt weltweit sehr vielen Menschen als gelungenes Beispiel dafür, dass der breit getragene Kampf für eine Befreiung aus staatlicher Gewaltherrschaft möglich ist. Mord im Staatsauftrag, Folter und Paramilitärs waren Vergangenheit. Im Vordergrund stand der Versuch, die extreme soziale Ungleichheit zu überwinden und einen Entwicklungsweg mit der armen Mehrheit der Bevölkerung zu suchen. Die USA versuchten durch Wirtschaftsblockade und ContraKrieg das Gelingen zu verhindern.
Unter Ortegas Führung greift die Staatsgewalt heute auf genau die Mittel und Muster zurück, die überwunden zu sein schienen. Auf den Trümmern der neoliberalen Regierungen der 1990 und 2000er Jahre ist nach der manipulierten Wiederwahl Ortegas in den vergangenen elf Jahren eine dynastische Familienherrschaft entstanden.
Mit sozialen Wohltaten wurde das Wohlverhalten eines Teils der Bevölkerung erkauft, antiimperialistische Sprüche wurden im Munde geführt, während zeitgleich Frauenrechte massiv beschnitten wurden, mit der Kirche und dem in und ausländischen Großkapital paktiert und die neoliberale, umweltzerstörende und Armut zementierende Wirtschaftspolitik fortgeführt wurde.
Dennoch gab es bisher im Land weder eine Opposition von rechts noch von links, die größeren Rückhalt in der Bevölkerung hatte. Die jetzige Revolte wird massiv und breit getragen. Sie wendet sich vor allen Dingen gegen die Usurpation der Macht durch die OrtegaFamilie. Niemand weiß, ob und wie sie sich politisch ausrichten wird, und schon gar nicht, ob dies mit einem progressiven Programm erfolgen wird.
Nach vielen Jahren der Solidarität mit dem sandinistischen Nicaragua stellen wir heute fest: Dieses System ist zu einem Gewaltsystem pervertiert, das Menschenrechte systematisch verletzt und Andersdenkende mit Gewalt verfolgt.
Uns ist bewusst, dass von allen Seiten, nicht zuletzt aus den USA, versucht wird, die Protestbewegung in reaktionärem Sinn zu beeinflussen. Doch das ist kein Grund nicht solidarisch zu sein. Im Gegenteil, mit unserer Solidarität tragen wir dazu bei, die Autonomie der Bewegung zu gewährleisten.
Viele von uns sind seit vielen Jahren und Jahrzehnten auf vielfältige Weise in der NicaraguaSolidarität tätig. Unser Engagement galt einem sandinistischen Nicaragua, das sich soziale Gerechtigkeit und Freiheit auf die Fahnen geschrieben hatte. Auch nach der Abwahl der sandinistischen Regierung haben wir unsere Arbeit an der Seite der sozialen Bewegungen im Land fortgesetzt.
Aus dem gleichen Grund, weshalb wir in den 1980er Jahren solidarisch mit der Sandinistischen Revolution waren, bestehen wir heute auf einem sofortigen Ende der Gewalt durch das Regime. Mit der Protestbewegung stimmen wir überein, dass Ortega, Murillo und ihre Parteigänger gehen müssen. Sie haben jegliche Legitimation verspielt und es gibt keine menschenwürdige Zukunft mit ihnen. Die Schuldigen für die Verbrechen an der Bevölkerung müssen dingfest gemacht und von unabhängigen Gerichten zur Rechenschaft gezogen werden. Die politischen Gefangenen müssen sofort freigelassen, die Kriminalisierung und politische Verfolgung sofort beendet werden.
Wir werden weiterhin alle Kräfte in Nicaragua unterstützen, die sich für ein freies Nicaragua einsetzen, in dem ein Leben in Würde und Selbstbestimmung möglich ist und soziale Gerechtigkeit endlich verwirklicht werden kann.

“¡¡¡ NICARAGUA LIBRE Y VIVIR !!!”

Berlin, im August 2018

Spanischer Text der Erklärung: Erklärung Nicaragua Solidarität Berlin_August 2018_esp

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