Nicaragua: Ortegas engste Freunde setzen sich ab

Rafael Solis
Rafael Solís im Interview mit dem TV Sender EL19 (Foto: Screenshot)

Am 08. Januar 2019 erklärte Rafael Solís – seit vielen Jahren einer der engsten Vertrauten von Präsident Daniel Ortega – in einem Offenen Brief an den Präsidenten Daniel Ortega, die Vize-Präsidentin Rosario Murillo und den Präsidenten der Nationalversammlung Gustavo Porras seinen sofortigen und unwiderruflichen Rücktritt als Richter am Obersten Gerichtshof Nicaraguas. Gleichzeitig legte er seine sämtlichen politischen Ämter nieder und verließ die FSLN (Nationale Sandinistische Befreiungsfront), der er 43 Jahre lang angehört hatte.

Solís begründet seinen Schritt damit, dass die Regierung ihre Position gegenüber der Opposition immer weiter verhärtet habe, sodass er „nicht mehr die geringste Möglichkeit“ sehe, im Jahr 2019 in einen „nationalen Dialog“ einzutreten, durch den „der Frieden, die Gerechtigkeit und die Versöhnung in Nicaragua“ wieder hergestellt werden könnte.

Er hält die Aussagen verschiedener Menschenrechtsinstitutionen von über 300 Todesopfern für glaubwürdig und bestätigt, dass es mehr als 500 politische Gefangene gibt, die unter den absurdesten Beschuldigungen verhaftet wurden. Er spricht von einem „wahrhaften Terrorstaat“, der sich durch den „exzessiven Einsatz parapolizeilicher Einheiten und der sogar mit Kriegswaffen ausgerüsteten Polizei“ auszeichne. „Es gibt keinerlei Recht mehr, das heute respektiert wird.“ Nicaragua sei zu einer Diktatur geworden, die die Form einer „absoluten Monarchie“ angenommen hat, in der „zwei Könige sämtliche Staatsgewalten abgeschafft haben“.

Anstatt sich um interne oder externe Vermittler zu bemühen, hätten sie „beschlossen, die Proteste der Menschen durch den völlig unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt und durch die verantwortungslose Bewaffnung von Jugendlichen und einigen Sandinisten im Ruhestand, die an den Repressionsmaßnahmen der Polizei teilgenommen hatten, im Blut zu ertränken“.

Zu der Behauptung Ortegas, dass es sich bei den Protestwelle, die im April 2018 begann, um einen von außen gesteuerten Putschversuch gegen die Regierung Nicaraguas gehandelt haben soll, stellt Solís fest: „Es gab weder einen Staatsstreich noch eine Aggression von außen, sondern einzig und allein einen irrationalen Ausbruch von Gewalt, bei dem Ihr [Ortega und Murillo] Euch darauf festgelegt habt, dieses Land in einen Bürgerkrieg zu führen, an dem ich in keiner Weise teilnehmen möchte, und schon gar nicht an Eurer Seite“.

Solís bestätigt auch, dass es in Nicaragua keinerlei unabhängige Gerichtsbarkeit mehr gibt. Die Richter, die in den letzten Wochen harte Urteile gegen angebliche Terroristen gefällt haben, hätten nur die Anweisungen des Präsidentenpaares ausgeführt: „Sie hatten keine Alternative dazu, Carmen [dem Amts- und Wohnsitz von Ortega und Murillo] zu gehorchen“.

Seine Einschätzung, dass bis zum 18. April 2018 in Nicaragua ein „Rechtsstaat herrschte und die Verfassung respektiert wurde“, während die Ereignisse danach „all dies zerstört haben und eine große Enttäuschung für mich bedeuteten“, muss wohl in erster Linie als Versuch gewertet werden, seine langjährige Beteiligung am System Ortega zu rechtfertigen.

Diese Stellungnahme von Rafael Solís hat zwei wichtige Aspekte: Erstens ist er bisher die höchstrangige und Ortega-Murillo am nächsten stehende Persönlichkeit, die sich dem Präsidentenpaar offen und mit einer unmissverständlichen politischen Botschaft entgegenstellt. Er drückt damit die Gefühle und Meinungen vieler Sandinistinnen und Sandinisten aus, die eigentlich seit vielen Jahren treue Anhänger Ortegas sind, aber die brutalen Repressionsmaßnahmen des vergangenen Jahres nicht gutheißen. Es wird daher in nächster Zeit sicherlich zu weiteren Rücktritten und Absetzbewegungen kommen. Von den noch lebenden ehemaligen – früher einmal allmächtigen – neun Comandantes de la Revolution der FSLN gibt es inzwischen keinen einzigen mehr, der Ortega unterstützt. Der Rücktritt von Rafael Solís ist das bisher deutlichste Indiz, dass der innere Zerfallsprozess des Regimes voranschreitet. Er ist unumkehrbar und kann nur einen möglichen Ausgang haben: das Ende der Präsidentschaft und der Herrschaft von Ortega, Murillo und ihren letzten Getreuen.

Die zweite bedeutende Aussage des Offenen Briefes besteht darin, dass Solís – Oberster Richter und seit vielen Jahren die graue Eminenz aller juristischen Maßnahmen und Tricksereien Ortegas – die zentralen Feststellungen des Berichtes der Unabhängigen Untersuchungskommission GIEI (Grupo Interdisciplinario de Expertos Independientes) über die Ereignisse vom April und Mai 2018 bestätigt.

Danach sind die Massenproteste weit überwiegend friedlich verlaufen, während die Staatsmacht mit unverhältnismäßiger Gewalt, mit Kriegswaffen und zusammen mit illegalen Paramilitärs gegen die Zivilbevölkerung vorgegangen ist.

Insbesondere wird die Analyse von GIEI bestätigt, dass es sich bei der Repression des vergangenen Jahres um Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt, was vor allem folgende Bedeutung hat:

  • Diese Verbrechen können nicht verjähren;
  • Es ist nicht möglich, durch Amnestien oder andere Maßnahmen die Strafverfolgung auszusetzen;
  • Es gilt der Rechtsgrundsatz der „universellen Gerichtsbarkeit“, das heißt, wenn diese Verbrechen in dem Land, wo sie begangen wurden, nicht juristisch verfolgt werden, können Gerichte in anderen Ländern sich für zuständig erklären und ein entsprechendes Strafverfahren durchführen;
  • Es ist möglich, diese Verbrechen vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu bringen.

Auf welche Weise auch immer das Regime Ortega-Murillo zugrunde gehen sollte, es wird ein juristisches Nachspiel für diejenigen haben, die an den Repressionsmaßnahmen beteiligt waren, sei es mit der Waffe in der Hand oder als Befehlsgeber. Die erste Forderung der demokratischen Protestbewegung ist die nach „Gerechtigkeit“, und das bedeutet, die Täter müssen ermittelt und bestraft werden, und die Opfer müssen entschädigt werden. Die internationale Solidaritätsbewegung sollte dies auf die Weise unterstützen, dass sie in ihren Ländern darauf dringt, die in Nicaragua begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit strafrechtlich zu verfolgen.

Matthias Schindler, Manfred Liebel (12.01.2019)

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