Prälat Peter Kossen gegen Hass und Hetze gegen Flüchtlinge und gegen Werksverträge und Wegwerfmenschen in der Schlachtindustrie
Rede von Peter Kossen beim Live-Konzert in Lengerich am 29.08.19. Veranstalter: DGB Münsterland
Bei „Hass und Hetze“ denken wohl die meisten von uns an betroffene Syrer und Afrikaner und an Hassprediger und bestimmte Gruppen und Parteien. Hass und Hetze trifft in unserer Gesellschaft mitunter Menschen mit anderer Hautfarbe, fremder Sprache. Juden und Muslime sind nicht selten das bevorzugte Feindbild von Hetzern und Demagogen. Heute Abend möchte ich Ihre Aufmerksamkeit lenken auf Opfer und auf Täter, die mitten in unserer Gesellschaft agieren und leiden, die aber kaum bekannt sind. Ich meine die Ausbeutung und Abzocke von Arbeitsmigranten, von Rumänen, Bulgaren und Polinnen. Die Menschenverachtung, die hier zu Tage tritt, steht der Menschenverachtung rechtsextremer Worte und Taten in nichts nach.
Clemens Tönnies, der größte deutsche Schlachthofbetreiber und Schalke 04-Präsident, hat sich mit seinen unsäglichen Äußerungen über Afrikaner kürzlich ins Abseits geschossen. Dass aber in seinem Konzern allein in Deutschland mehr als 10.000 Arbeitssklaven schuften, mehrheitlich Frauen und Männer aus Ost- und Südosteuropa, bleibt meist unerwähnt.
Die deutsche Fleischindustrie behandelt im großen Stil Arbeitsmigranten wie Maschinen, die man bei externen Dienstleistern anmietet, benutzt und nach Verschleiß austauscht, wegwirft. Durch die harte körperliche Arbeit in feuchten und sehr kalten Räumen unter ständigem Druck, noch schneller zu arbeiten, ist auch der Stärkste irgendwann physisch und psychisch am Ende. Diejenigen, die es trotz der Menschenschinderei schaffen, über mehrere Jahre durchzuhalten, tragen chronische Leiden davon. Durch die Arbeitszeiten sind die Betroffenen über Jahre hin nicht in der Lage, Sprachkurse oder Integrationsangebote wahrzunehmen. So sprechen viele kaum Deutsch. Rund um die Uhr haben sie bereit zu stehen, Arbeit wird häufig kurzfristig per SMS befohlen, Überstunden werden nicht selten spontan angeordnet. Die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in den Orten ist praktisch nicht möglich. Eine Integration der Arbeiter und ihrer Familien kann so kaum stattfinden. Parallelwelten sind entstanden. Ein Übriges tut die auf Abschottung angelegte Unterbringung. Schrottimmobilien, die zu Wuchermieten mit Werkvertragsarbeitern vollgestopft werden!
In Lengerich leben mehr als 1000 Menschen rumänischer und bulgarischer Nationalität. Viele von ihnen arbeiten in der Fleischindustrie im Umland, oft unter erbärmlichen Umständen. Geflohene Menschen sind längst in den Sportvereinen und im Freizeitbereich angekommen – Gott sei Dank! Arbeitsmigranten trifft man dort keine an, obwohl sie hier ganzjährig leben.
Dass Rumänen und Bulgaren als gleichwertige Mitbürger und Nachbarn gelten und nicht missbraucht werden als Billiglöhner und Drecksarbeiter – davon sind wir noch weit entfernt!
Ein Sumpf von kriminellen Subunternehmern und dubiosen Leiharbeitsfirmen wird genutzt, um Lohnkosten zu drücken und Unternehmer-Verantwortung abzuwälzen. Ausbeutung von Menschen, Sklaverei, „funktioniert“ bis heute immer da, wo Menschen als Nummer geführt werden, wo sie kein Gesicht haben, keinen Namen und keine Geschichte. Osteuropäische Werkvertragsarbeiter sind uns meist nicht persönlich bekannt: Sie leben unter uns und sind doch Bürger einer dunklen Parallelwelt, eine große anonyme Gruppe, eine „Geisterarmee“: Arbeitskräfte ohne Gesicht, ohne Namen und Geschichte. So werden sie ohne Aufsehen und ohne schlechtes Gewissen ausgebeutet, betrogen und gedemütigt – mitten unter uns.
Rattenlöcher werden zu Wuchermieten als Wohnungen vermietet. Erzieherinnen in Lengerich erzählen mir von verstörten, verängstigten und geschwächten Kindergartenkindern, die in solchen Verhältnissen leben und aufwachsen. Manche verschlafen fast den ganzen Kindergartentag, weil sie nachts in den Unterkünften Gewalt, Alkohol- und Drogenmissbrauch und auch Prostitution miterleben.
Die „Personaldienstleister“ und Subunternehmer haben die Arbeiter und Arbeiterinnen direkt oder über Kontaktleute in ihren Heimatländern angeworben, oft mit Versprechungen bzgl. Lohn und Wohnung, die in der Realität nicht annähernd eingehalten werden. Die Arbeiter werden vielmehr in eine Abhängigkeit von ihrem Arbeitgeber gebracht durch eine Art Schuldsklaverei oder durch angedrohte und ausgeführte körperliche und psychische Gewalt gegen sie selbst oder ihre Angehörigen in der Heimat, durch Vorenthaltung von zustehendem Lohn, durch Einbehaltung des Reisepasses, durch Verquickung von Arbeits- und Wohnmöglichkeit, durch eine Abschottung vom deutschen Umfeld, durch das ausdrückliche Verbot, über Arbeit und Arbeitgeber zu reden, durch willkürliche „Strafgelder“, durch die Drohung, bei einem Ausstieg aus der Arbeit auf die „schwarze Liste“ gesetzt zu werden und nirgendwo in der Region neue Arbeit zu finden. Die Arbeiter werden hingehalten, gedemütigt und erpresst. Sie werden benutzt, verschlissen und dann entsorgt – wie Maschinenschrott: „Wegwerfmenschen“. Wegwerfmenschen bauen Kreuzfahrtschiffe und teure deutsche Autos, schuften als Scheinselbständige auf Baustellen, bei Ausstall-Kolonnen, als Paketzusteller und in der Fleischindustrie. Und nicht nur dort: Bis in Kleinstbetriebe, aber auch in Privathaushalten, hat man „seine Polin“ oder „seinen Rumänen“. Arbeitsmigrant*innen werden gehandelt wie Maschinen und behandelt wie Leibeigene.
Jeden Tag kaufen in Deutschland eine Million Männer den Körper einer Frau. Fast der ganze deutsche Straßenstrich wird bedient durch Mädchen und Frauen aus Rumänien und Bulgarien. So an der B 68 zwischen Bersenbrück und Bramsche. Oft sind es Roma, oft Analphabetinnen, nicht selten sind es Minderjährige. Sie werden hierher gelockt mit dem Versprechen einer Arbeit in der Gastronomie oder im Frisörhandwerk. Einmal in Deutschland angekommen, werden sie jedoch in großer Zahl zur Prostitution gezwungen und gefügig gemacht mit Drogen und angedrohter und mit ausgeführter körperlicher und psychischer Gewalt; und dies nicht selten von den gleichen Leuten, die im Hauptgeschäft Männer und Frauen als Billiglöhner in die Fleischfabriken schleusen. Zynisch formuliert kann man sagen: „Fleisch ist Fleisch“ und das eine wird so verächtlich behandelt und gehandelt, wie das andere – mit dem Unterschied, dass Tierhandel und Tierhaltung stärker reguliert ist…
Niemand würde sagen, dass er Rumänen hasst. Nie hört man die Forderung: „Polen raus!“ oder „Bulgaren raus!“ – Dafür sind sie viel zu notwendig und vieles wäre ohne sie nicht mehr möglich. Das Unrecht beginnt mit der „Schere im Kopf“, mit der alltäglichen Diskriminierung. Bis in meine Verwandtschaft hinein wird das Prinzip: „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ in Frage gestellt. Und dass „die Polin“, die Nachbars Oma betreut, (Frage: Hat „die Polin“ eigentlich auch einen Namen???) nachts bei Oma im Zimmer schläft, weil das so praktisch ist, das halten viele für ganz normal. Auch dass sie 24 Stunden bereitstehen muss. EU-Bürger haben keinen Anspruch auf Sprachkurse. Dies ist einer der Gründe, warum sie so hilflos der Ausbeutung und Abzocke bei uns ausgeliefert sind: Ohne Sprache keine Wohnung. Ohne Sprache keine anständige Arbeit. Ohne Sprache keine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Aber was können, was müssen wir tun als Einzelne vor Ort, als Mitbürger*innen?
Wir können Migranten aus der Isolation holen, aus ihrer Schattenwelt an der Ringeler oder Lienener Straße. Wir können sie ansprechen über alle Sprachbarrieren hinweg!
- Stichwort „Polnische Pflegekräfte“: Die Frauen sind oft über Monate zur Pflege oder Betreuung in deutschen Haushalten tätig. Gibt es Kontakte zu den Nachbarn?
- Was nehmen wir „vor unserer Haustür“ als problematisch wahr? (z. B. Unterkünfte…)
- Arbeitsstrich, Straßenstrich, Drogenhandel… Bitte hinschauen und öffentlich machen!
- Bewusstes Einkaufen: „Geiz ist geil“???
- Nachfragen im Handel: Ist der Weg des Fleisches, des Gemüses, des Obstes, der Jeans, des T-Shirts… nachvollziehbar?
- Bei Firmen nachfragen: „Wie schließen Sie menschenunwürdige Arbeits- und Lebens-bedingungen in Ihrer Produktions- oder Handelskette aus?“
- Eine-Welt-Verkauf, Fairer Handel, FairTrade-Town Lengerich!
- Bevorzugt regionale und saisonale Lebensmittel einkaufen.
- PolitikerInnen ansprechen: Wie kann die globale Abwärtsspirale bei Entlohnung und Arbeitsbedingungen gestoppt werden? Wie kann die grassierende Tarifflucht in Deutschland gestoppt werden?
- Ursachen und Bedingungen für Migration zum Thema machen.
- Sozialer Wohnungsbau: Wo muss dringend Wohnraum zur Verfügung gestellt werden?
- Wo gibt es vor Ort „Türöffner“, Menschen, die MigrantInnen an Beratungs-, Hilfs- und Integrationsangebote heranführen? Wie finden sie den Weg in Vereine und Verbände?
Am 4. Januar habe ich mit einigen Fachleuten und Engagierten hier in Lengerich den Verein „Aktion Würde und Gerechtigkeit“ gegründet. Wir wollen Arbeitsmigranten aus Ost- und Südosteuropa stark machen und so dazu beitragen, dass ihre Integration gelingt. Würde und Gerechtigkeit wird ihnen in unserem Land oft vorenthalten. Das „Deutsche Institut für Menschenrechte“ stellt in seinem jüngsten Bericht für den Deutschen Bundestag zur Entwicklung der Menschrechtssituation in Deutschland fest:
„Arbeitsmigrant*innen erleben hier trotz gesetzlicher Änderungen und ausgebauter Unterstützungsstruktur nach wie vor schwere Ausbeutung, beispielweise auf dem Bau, in der fleischverarbeitenden Industrie, der Pflege oder Landwirtschaft. Das heißt, sie arbeiten letztlich für zwei bis drei Euro die Stunde, mit vielen Überstunden und ohne soziale Absicherung. Ein zentrales Problem: Sie können ihr Recht auf Lohn ganz häufig nicht durchsetzen. Fehlende Sprach- und Rechtskenntnis, Abhängigkeit vom Arbeitgeber, fehlende Beweismittel sowie ein erschwerter Zugang zu Beratung führen zu einer strukturellen Unterlegenheit gegenüber den Arbeitgebern, die durch bestehende einzelne rechtliche Instrumente nicht ausgeglichen werden kann.“
Der neugegründete Verein „Aktion Würde und Gerechtigkeit“ ist als gemeinnützig anerkannt und will durch ein Netzwerk von Juristen und juristisch geschulten Ehrenamtlichen den Rechtsweg für Arbeitsmigranten leichter zugänglich machen. Das beginnt damit, dass Anträge bei Gericht für Beratungshilfe und Prozesskostenhilfe übersetzt und Menschen, die kein Deutsch sprechen, bei der Antragstellung unterstützt werden. Juristische Beratung und Vertretung auch vor Gericht soll dadurch leichter möglich werden. An der Rahestraße 29 nimmt die Geschäftsstelle unseres Vereins zeitnah ihre Arbeit auf. Infos finden Sie unter www.wuerde-gerechtigkeit.de
Peter Kossen