Eisenbahn-Werkstätten Officine in Bellinzona 2008 – 2019: Der lange Kampf gegen die Schliessung

Eine Einschätzung des 10-jährigen Kampfes der Belegschaft von Rainer Thomann (Schweiz)

Rainer unterstützte und begleitete diesen – und andere – Arbeitskämpfe in der Schweiz, und war als deren „Botschafter nördlich der Alpen“ auch in Deutschland auf verschiedenen Veranstaltungen unterwegs.

Demonstration in Bellizona am 30. März 2008
Demonstration in Bellizona am 30. März 2008

 

Wir lasen damals, 2008: „Der Streik der Arbeiter der SBB-Werkstätten (Officine) in Bellinzona im Frühjahr 2008 geht wohl in die Geschichte ein: Nach 33 Tagen Streik und Besetzung der Werkstatt, einer breiten Mobilisierung von Gesellschaft und Politik konnten die über 400 Beschäftigten die Restrukturierungspläne der SBB-Direktion erfolgreich bekämpfen und somit den Standort erhalten.“

 

 

 


Hier die Einschätzung von Rainer Thomann im Oktober 2019:

 

Im Herbst 2009 habe ich Euch zum ersten Mal über den Kampf bei den Eisenbahnwerkstätten Bellinzona (s. Labournet) und der metallverarbeitenden Fabrik INNSE in Mailand (s. Labournet) berichtet. Jetzt, 10 Jahre später und im Oktober 2019, habe ich nochmals die gleiche Aufgabe übernommen.

Damals war es eine Art „Begrüssungsreferat“, das – getragen von der hoffnungsvollen Aufbruchsstimmung in jenem Jahr – von Optimismus sprühte und mit der rhetorischen Frage endete: „Welches Werk wird die deutsche INNSE?“ (s. Gewerkschaftslinke Hamburg) So gesehen ist es heute ein „Abschiedsreferat“, das ich nun vortragen werde.

Die Aufbruchsstimmung ist längst verflogen und hat – wenigstens bei mir – einer grossen Ernüchterung Platz gemacht. Inzwischen wissen wir nicht nur, dass es keine „deutsche INNSE“ gegeben hat, auch die beispielhaften Kämpfe (Officina Bellinzona und INNSE Mailand) haben nicht zu einem dauerhaften Sieg der Belegschaften geführt. Der „lange Atem der Arbeiter“, über den die WOZ noch im April 2012 berichtete (s. WOZ), ist von Jahr zu Jahr schwächer geworden. Mehr und mehr ein kaum noch vernehmbarer Hauch, ist er ganz erstorben, nachdem das Herz des Widerstands: die Einheit der Belegschaft, gebrochen war. Bei Grabreden ist es üblich, auf das Leben der Verstorbenen zurückzublicken. In diesem Sinne sollen hier nochmals die wichtigsten Etappen des Kampfes gegen die Schliessung der Officina Bellinzona festgehalten werden.

Im April 2008, nach 33 Tagen Streik und Betriebsbesetzung und nachdem in Bellinzona mehr als zehntausend Menschen auf die Strasse gegangen waren, wurde die SBB-Spitze von der Schweizer Regierung gezwungen, mit den Vertretern der Belegschaft und den Gewerkschaften an einem „Runden Tisch“ über die Zukunft der Officina Bellinzona zu verhandeln. Damit waren die Schliessungspläne vorläufig vom Tisch und der erfolgreiche Streik fand weit über die Landesgrenzen hinaus grosse Beachtung.

Ende Mai 2008 fand auf Initiative des Officina-Streikkomitees ein erstes Vernetzungstreffen statt, das unter dem Motto stand: „Schaffen wir zwei, drei viele Officine!“. Rund zweihundert Personen nahmen daran teil. Beim zweiten Treffen, wenige Monate später, waren es nochmals mehr, darunter auch einige aus unserem Kreis. Dennoch zeigte sich spätestens nach einem Jahr, dass nicht „zwei, drei, viele Officine“ geschaffen, sondern lediglich „zwei, drei, vier Treffen“ durchgeführt wurden – das vierte und letzte im Herbst 2009. Bald einmal war klar, dass nur ganz wenige Aktivistinnen und Aktivisten weiterhin versuchten, das Beispiel Officina andern Belegschaften im Kampf gegen die Schliessung ihres Betriebes schmackhaft zu machen. Einige Jahre lang traten sie als „Netzwerk Arbeitskämpfe“ in Erscheinung und nahmen auch regelmässig am jährlichen Officina-Fest teil.

Bei der Wiederaufnahme der Arbeit nach dem siegreichen Streik waren die Machtverhältnisse im Betrieb auf den Kopf gestellt. Das Management war arg in der Defensive und stand sozusagen mit dem Rücken zur Wand. Sehr deutlich zu sehen ist das im zweiten Dokumentarfilm von Danilo Catti „1 due 100 Officine“ (s. SwissFilms), der – mit Ausnahme von einigen wenigen Aufführungen im Jahr 2011 – leider bis heute der Öffentlichkeit nicht zur Verfügung steht. Als ein Angestellter nach dem Streik die rote Officina-Fahne in seinem Büro aufhängen will, wird er von seinem Chef daran gehindert. Darauf wendet er sich ans Streikkomitee, das die Fahne eigenhändig an der Wand befestigt und dem Chef droht, er solle aufpassen, wie er sich verhalte. Denn ohne den Streik wäre jetzt das Werk geschlossen und auch er hätte seinen Arbeitsplatz verloren. In einer andern Szene sieht man, wie der Werksdirektor den Arbeitern Vorwürfe macht, die Anzahl der im letzten Monat reparierten Güterwagen sei völlig ungenügend. Darauf entgegnet ihm ein Arbeiter vor versammelter Belegschaft, wenn er glaube, es liege mehr drin, dann solle er doch gefälligst herkommen und selbst Hand anlegen…

Die beiden Beispiele, so belanglos sie scheinen mögen, sind wichtig, um zu verstehen, weshalb der Kampf nach mehr als zehn Jahren in einer Niederlage endete. Die Machtverhältnisse im Betrieb sind das Rückgrat jedes Arbeitskampfes (abgesehen von den ritualisierten und institutionalisierten Streiks, die von einer Gewerkschaftsführung ausgerufen und nach Belieben wieder abgebrochen werden). Mit dem Streik und vor allem mit der Werksbesetzung wurde dem offiziellen Besitzer, den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB), die faktische Verfügungsgewalt über den Betrieb entzogen. Ein solcher Schritt der Belegschaft (wenn er nicht bloss symbolischer Natur ist und nach wenigen Tagen oder sogar Stunden rückgängig gemacht wird) endet in der Regel mit einem Sieg wie in Bellinzona oder in einer Niederlage wie beim SPAR-Tankstellenshop in Baden-Dättwil (s. Labournet 2013). Es liegt auf der Hand, dass die SBB-Spitze nach der Wiederaufnahme der Arbeit im April 2008 danach trachtete, möglichst schnell wieder Herr im Haus zu werden bzw. nach ihren Worten: die Normalität wiederherzustellen. Denn mit der durch den Streik und die Betriebsbesetzung ausgelösten Dynamik hatten die Arbeiter das Allerheiligste der  kapitalistischen Produktionsweise angetastet: die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel und damit über das eigene Leben.

Nach dem Ende des Streiks im April 2008 wurde der Kampf jahrelang auf zwei Ebenen weitergeführt. Einerseits im Betrieb mit dem täglichen Kleinkrieg zwischen Belegschaft und Management, andrerseits am „Runden Tisch“ bei den regelmässigen Verhandlungen über die Zukunft der Tessiner SBB-Werkstätten. Selbstverständlich standen beide Ebenen in einer direkten Beziehung zueinander und beide Seiten kämpften sowohl  im Betrieb als auch auf der Verhandlungsebene hartnäckig im ihre Interessen. Dabei zeigte es sich, dass die Belegschaft, je länger die Auseinandersetzung dauerte, mehr und mehr in die Defensive geriet, bis das Kräfteverhältnis schliesslich zugunsten der SBB-Spitze kippte. Dies geschah nach meiner Beobachtung im Jahr 2016, nachdem ein Ultimatum der Belegschaft an die die SBB-Führung keine Wirkung gezeigt hatte und die angedrohten Kampfmassnahmen ausblieben. In den Jahren zuvor war es noch möglich gewesen, jeden neuen Angriff auf die Arbeitsplätze erfolgreich abzuwehren.

Der Ablauf war stets derselbe: Die SBB hielten sich nicht an getroffene Vereinbarungen und Verträge, krebste dann aber zurück, sobald sie auf entsprechenden Widerstand stiess. So wurden der Officina im November 2011 bereits zugesicherte Aufträge mit fadenscheinigen Begründungen entzogen. Die Massnahme hätte kurzfristig zum Abbau von rund 100 Arbeitsplätzen und später, infolge der mangelnden Auslastung der Infrastruktur, zur Schliessung des ganzen Werkes geführt. Nachdem die Belegschaft eine Protestresolution verfasst hatte und nachdem sowohl die regionale Politik als auch der Mediator am „Runden Tisch“ ihr den Rücken gestärkt hatten, gab die SBB-Zentrale das Auftragsvolumen unverzüglich zurück.

Vordergründig wurde über Arbeitsplätze und Auslastung des Werkes gestritten, im Hintergrund standen andere Interessen. Wenn ein Unternehmer seine Arbeiter lieber entlässt als sie weiter auszubeuten, gibt er stets eine mangelnde Rendite als Begründung an, während der wahre Grund vertuscht wird. Praktisch bei jeder traditionsreichen Fabrik mit einem grossen Grundstück, das den Appetit der Immobilienspekulation geweckt hat, kann man das aufzeigen. Erst recht trifft das natürlich auf die Officina Bellinzona zu, mit ihrem riesigen Gelände (100‘000 Quadratmeter) an zentraler Lage unmittelbar neben dem Bahnhof. Erstmals an die Öffentlichkeit durchgesickert war gegen Ende 2012 ein „Projekt AREA“, mit dem künftige Nutzungsmöglichkeiten des Officina-Grundstücks abgeklärt werden sollten – ganz unverbindlich und ohne jede konkrete Absicht, wie die SBB damals betonten. Der Projektgruppe angehört hatte auch ein gewisser Silvio Tarchini, der laut „Bilanz“ als „Baulöwe“ 2004 erstmals in der Liste der reichsten Schweizer aufgetaucht war. Ein halbes Jahr später wurde AREA offiziell begraben, zumindest sollte in den Augen der Tessiner Öffentlichkeit dieser Anschein erweckt werden.

In den Verträgen von 2013 und 2014 zur Schaffung eines sog. „Kompetenzzentrums“ verpflichteten sich die SBB, in den nächsten 5 – 7 Jahren für eine mit den Vorjahren vergleichbare Auftragslage in den Werkstätten von Bellinzona zu sorgen. Ausserdem wurde der Officina eine grössere Autonomie gegenüber der SBB-Zentrale zugestanden. Daraufhin schrieben die Zeitungen, für die nächsten 10 bis 15 Jahre sei die Zukunft der Officina gesichert. Offenbar waren diese Verträge, um die vorher jahrelang diskutiert und verhandelt worden war, ein reines Ablenkungsmanöver. Denn die Realität stand in krassem Widerspruch zu den eingegangenen Verpflichtungen.

Waren es 2012 noch 470‘000 jährliche Arbeitsstunden, so sanken diese zuerst auf 430‘000, dann auf etwa 400‘000 und im Herbst 2015 wurde ein weiterer Rückgang auf 300‘000 angekündigt. Als Antwort auf diesen offensichtlichen Vertragsbruch marschierten am 13. Oktober 2015 rund 200 Officina-Arbeiter mit ihren Unterstützer_innen zum Regierungsgebäude in Bellinzona und besetzten es kurzzeitig (s. Labournet 2015: Der Kampf geht weiter). Empfangen wurden sie von einem Tessiner Regierungsmitglied sowie von der Präsidentin des Kantonsparlamentes, die beide den Arbeitern ihre Unterstützung versprachen. Diese beschränkte sich allerdings auf einen sehr diplomatisch formulierten Brief an die SBB-Spitze, worin festgestellt wurde, dass der aktuelle Auftragsrückgang möglicherweise gegen die unterzeichneten Verträge verstosse.

Der Protestmarsch vom Oktober 2015 war die letzte grössere Mobilisierung der Officina-Arbeiter. Danach beschränkte sich der Widerstand auf Protesterklärungen, die von der Belegschaftsversammlung beschlossen wurden, sowie im Frühjahr 2016 auf ein Ultimatum: Falls bis zum 15. April keine konkreten Schritte erfolgten, werde die Arbeiterversammlung über die erforderlichen Massnahmen beschliessen, um die Zukunft der Officina zu gewährleisten. Die Frist verstrich ungenutzt, die SBB-Spitze wollte es offenbar auf eine erneute Konfrontation ankommen lassen. Als die angedrohten Protestaktionen anlässlich der Eröffnung des NEAT-Basistunnels im Juni ausblieben, war die Schwäche der Belegschaft nicht mehr zu übersehen.

Im Herbst 2016 beauftragte Andreas Meyer, der oberste Chef der SBB, den Schriftsteller Hanspeter Gschwend, einen Text mit dem Titel „Visionen und Erscheinungen im Tessin“ (s. Riseup) zu schreiben, dessen Vorwort er gleich selber verfasste. Darin wird die Geschichte eines fiktiven Gesprächs zwischen einem gegenwärtigen, visionären und weitsichtigen SBB-Manager und einem verstorbenen Bürgermeister des ausgehenden 19. Jahrhunderts erzählt. Diesem wird u.a. der folgende Satz in den Mund gelegt: „Zu meiner Zeit musste man im Namen der Industrie die Gärten opfern, und heutzutage muss die Industrie zurückweichen, um Platz zu schaffen für ein modernes Stadtzentrum mit Wohnungen in unmittelbarer Bahnhofsnähe sowie Einkaufsgeschäften, Büros, Handel und Dienstleistungen, alles hier in der Nähe.“ Die seltsame Schrift war ein Versuchsballon, der Tessiner Bevölkerung die Verlagerung bzw. Schliessung der Officina schmackhaft zu machen. Zu diesem Zweck lud Meyer die Abgeordneten des Tessiner Kantonsparlamentes für den 8. November 2016 um 18 Uhr zu einem Treffen ein, um seine Visionen zu präsentieren. Das Streikkomitee rief auf denselben Zeitpunkt zu einer Protestkundgebung am Bahnhof Bellinzona auf, worauf Meyer das Treffen aus terminlichen Gründen kurzfristig absagte.

Zur Protestkundgebung eingefunden hatten sich an jenem kalten Novemberabend kaum viel mehr als einige Dutzend Personen. Nicht gekommen waren, abgesehen von einem kleinen Kern um das Streikkomitee, die Arbeiter der Officina. Anwesend war dafür Mario Branda, der sozialistische Bürgermeister von Bellinzona, der an keinem Officina-Fest fehlte und der sich stets als Freund der Officina ausgab. So hatte er 2013, am Fest zum 5. Jahrestag des Streiks, erklärt, das Gelände, auf dem die Officina steht, gehöre zwar den SBB, einer allfälligen Umzonung würde er sich jedoch mit aller Kraft entgegenstellen. Auch an der Protestkundgebung vor dem Bahnhof ergriff er das Wort, um den Anschein zu erwecken, er stünde auf der Seite der Anwesenden. Wenige Monate später, am 3. Februar 2017, erklärte er in einem Zeitungsinterview, eine Verlagerung der Officina an einen andern Ort sei kein Tabu mehr. Und im Juli 2017 brachte die NZZ eine Reportage über Bellinzona und dessen Bürgermeister, der sich „als nicht allzu rot, sondern als pragmatischer, konsensorientierter Exekutivpolitiker“ entpuppt habe. Ausserdem berichtete die NZZ, dieser habe „von einer möglichen Verlagerung der SBB-Werkstätten“ gesprochen und davon, dass sich die frei werdende Fläche neben dem Bahnhof für den Wohnungsbau nutzen liesse (s. NZZ 2017).

Am 11. Dezember 2017, also ziemlich genau ein Jahr und einen Monat nach jener Protestkundgebung am Bahnhof Bellinzona, unterzeichneten SBB, Kanton Tessin und Stadt Bellinzona eine Absichtserklärung, wonach in den Bau einer neuen Officina 360 Millionen Franken investiert werden sollen. Die Hälfte davon finanzieren die SBB, 60 Millionen kommen aus Bundesgeldern, 100 Millionen zahlt der Kanton Tessin und 20 Millionen die Stadt Bellinzona, die dafür 45‘000 Quadratmeter des Grundstücks erhält, auf dem die heutige Officina steht und das sich im Besitz der SBB befindet. Im neuen Werk, das ab 2026 den Betrieb aufnehmen soll, würden noch rund 200 Personen arbeiten, also etwa die Hälfte der heute Beschäftigten. Offen blieb, wie es während der achtjährigen Übergangsphase weitergehen wird. Damit war das Schicksal der Officina Bellinzona besiegelt. Meyer hatte sein Ziel erreicht und die Tessiner Politik auf seine Seite ziehen können. Die Belegschaft stand vor vollendeten Tatsachen, ihre Vertreter waren in die Entscheidung nicht einmal einbezogen worden.

Der Verein „Hände weg von den Officine“, der nach dem Streik 2008 zur Unterstützung des Kampfes um die Weiterführung der Officina Bellinzona gegründet worden war, lud auf den 16. Dezember 2017 zu einer öffentlichen Versammlung in der legendären „Pittureria“ ein. Der Stadtpräsident von Bellinzona, ebenfalls Mitglied des Vereins, verteidigte die  Absichtserklärung  und verliess anschliessend die Halle unter ähnlichen Umständen wie seinerzeit der SBB-Manager am 7. März 2008. Die Versammlung beschloss, die letzte vermeintliche Trumpfkarte auszuspielen: das von 15‘000 Tessinerinnen und Tessinern unterzeichnete Volksbegehren aus dem Jahre 2008, das die Schaffung eines Technologiepools auf dem Gelände der heutigen Officina verlangte. Es war seinerzeit auf Eis gelegt, aber nie zurückgezogen worden und sollte nun der Volksabstimmung unterbreitet werden.

Damit verlagerte sich der Arbeitskampf endgültig auf die institutionelle Ebene. Eine Ebene, auf der nicht das Kräfteverhältnis im Betrieb entscheidend ist, sondern die Machtverhältnisse in der bürgerlichen Gesellschaft. Auf diesem Terrain können Arbeitskämpfe – d.h. Kämpfe, die direkt dem Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital entspringen – in aller Regel nur verloren werden. Wären die Chancen, eine solche Volksabstimmung zu gewinnen, unmittelbar nach dem Streik im Jahre 2008 noch einigermassen intakt gewesen, so konnte diese Strategie zehn Jahre später lediglich die sich abzeichnende Niederlage bekräftigen. Mitte Mai 2019 lehnten die Tessiner Stimmberechtigten das Volksbegehren mit einer allzu deutlichen Mehrheit von 65 Prozent ab.

Und die Arbeiter der Officina? Es war jeweils nicht zu übersehen, dass am Officina-Fest jedes Jahr nur ein kleiner Teil der Anwesenden zur Belegschaft gehörte. Meistens die gleichen Gesichter, nicht wenige von ihnen bereits in Rente. Und von den „glorreichen Sieben“ des Streikkomitees von 2008 waren nur drei übriggeblieben: einer war wegen politischer bzw. persönlicher Differenzen ausgetreten, einer hatte sich aus familiären Gründen zurückgezogen, einer hatte sich erschossen und einer war seit Jahren pensioniert. Es liegt auf der Hand, dass unter diesen Umständen das Kräfteverhältnis im Betrieb nicht mehr das gleiche war wie 2008. Offenbar war es der SBB-Führung gelungen, die „Normalität“, wie sie es nannte, wiederherzustellen.

Unmissverständlich klar wurde das im Frühling 2019, als die Tessiner Zeitungen berichteten, die Mehrheit der Officina-Arbeiter sei gegen das Volksbegehren. In einem offenen Brief an die SBB-Spitze hatten 207 von ihnen ihre Besorgnis ausgedrückt, dass die SBB bei einer Annahme der Volksinitiative ihre Pläne zum Bau einer neuen Officina zurückziehen könnten. Die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und die Hoffnung, unter jenen zu sein, die am neuen Ort weiterbeschäftigt würden, hatten die Belegschaft gespalten. Hält man sich vor Augen, wie sich die SBB in den vergangenen zehn Jahren an Abmachungen und Verträge gehalten haben, so sind erhebliche Zweifel angebracht, ob die angeblich „modernste Bahnwerkstätte Europas“, wie sie in der NZZ gelobt wurde (s. NZZ 24.1.2019), überhaupt je gebaut wird. Und wie viele Personen dann tatsächlich dort arbeiten werden, steht erst recht in den Sternen.

Da in der Officina Bellinzona die Kraft für einen kollektiven Widerstand offenbar nicht mehr vorhanden ist, sucht jeder für sich einen individuellen Ausweg – so wie überall. Damit ist in der Tat „die Normalität“ wiederhergestellt, d.h. die lähmende Angst, den Arbeitsplatz und damit die wirtschaftliche Existenz zu verlieren. Eine Angst, die gefügig macht und dafür sorgt, dass die Lohnsklaven sich mit ihrem Schicksal abfinden und zufrieden sind, dass sie Arbeit haben – Hauptsache Arbeit, gleich zu welchen Bedingungen!

Was bleibt, ist die Frage, ob die Niederlage hätte vermieden werden können. Wahrscheinlich nicht, muss man leider lakonisch feststellen. Dennoch sollen hier ein paar grundsätzliche Überlegungen angestellt werden. Der Arbeitskampf im Jahre 2008 konnte nur gewonnen werden, weil es dem Streikkomitee gelungen war, die Mehrheit der Tessiner Bevölkerung hinter sich zu scharen. Also auch Menschen, die den besitzenden Klassen angehören und normalerweise einem Arbeiterstreik ablehnend gegenüber stehen. Dieses Bündnis weit über die eigene Belegschaft und die eigene Klasse hinaus, bis in die „Mitte der Gesellschaft“, wenn man so sagen kann, war gleichzeitig ein zweischneidiges Schwert.

Um die bürgerlichen Kräfte, die auch im Verein „Hände weg von den Officine“ aktiv mitwirkten, nicht vor den Kopf zu stossen und so den Druck auf die SBB-Spitze und die Tessiner Politik aufrechtzuerhalten, musste man Rücksicht nehmen und die Wortwahl entsprechend anpassen. Augenfällig war das anlässlich des Officina-Festes im Jahre 2015. Einige Monate vorher hatte die Belegschaft eines Industriebetriebs in Mendrisio gegen einen massiven Lohnabbau gestreikt. Als Gäste für die Podiumsdiskussion am Fest eingeladen waren jedoch nicht Arbeiter aus dem bestreikten Betrieb von Mendrisio, sondern Vertreter der Tessiner Politik, die – rechte wie linke – in einer Sprache miteinander diskutierten, die auch für Leute mit italienischer Muttersprache unverständlich war.

Eine andere Episode aus dem Jahre 2012 verdeutlicht die Problematik: Am Officina-Fest im April stellten wir in einem Redebeitrag unser Netzwerk Arbeitskämpfe vor und betonten: „Die Fähigkeit, die Grenzen des eigenen Betriebs, der eigenen Berufsgattung und der eigenen Nation zu überschreiten, ist ein grundlegender Bestandteil der Selbstermächtigung der Arbeiterklasse. Wenn sich die Arbeitskämpfe in der eigenen Fabrik, im eigenen Kampf einschliessen, ohne Bezug auf die gesamte Gesellschaft, werden sie – früher oder später – einer nach dem andern erlahmen, so dass das Kapital das dominierende Element bleibt und seine Lohnsklaverei verschärfen wird.“  (s. Redebeitrag Netzwerk Arbeitskämpfe 2012) Nachher kam Gianni Frizzo, der Streikführer von 2008, zu uns und meinte: „Was ihr gesagt habt, ist richtig. Aber das ist sehr, sehr schwierig.“ Er hatte zweifellos Recht. Trotzdem stellt sich die Frage, ob es nicht besser gewesen wäre, diesen schwierigen Weg wenigstens zu versuchen, statt alle Kräfte in die Aufrechterhaltung eines Bündnisses zu stecken, das auf Dauer ohnehin nicht bestehen konnte.

Ich habe mich bemüht, meinen Bericht so sachlich und emotionslos wie möglich zu verfassen. Dennoch schimmert die Enttäuschung nur allzu oft durch. Ich habe mir stets vorgenommen, lieber zu schweigen als Resignation und Pessimismus zu verbreiten. Deshalb werde ich bis auf weiteres wohl besser schweigen. Doch die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Beenden möchte ich deshalb mein „Abschiedsreferat“ mit dem Schlusssatz der Grussbotschaft von Gianni Frizzo an die deutschen Arbeiterinnen und Arbeiter, anlässlich der Filmvorführungen in Hamburg, Berlin und Salzgitter im Juni 2009. Ein Satz, der mir auch heute noch aus dem Herzen spricht: „Hände weg von den Arbeiterinnen und Arbeitern! Und kein Öl, sondern Sand ins Getriebe der Macht!“

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