EU-Arbeitsmigranten: Krasse Ausbeutung und eine Mehrklassen-Gesellschaft auf dem Arbeitsmarkt, eine „Geisterarmee“ von Arbeitskräften ohne Gesicht, ohne Namen und Geschichte

Peter Kossen
Pfarrer Peter Kossen

Dies alles wird begünstigt durch das Wohlstandsgefälle innerhalb der EU. Pfarrer Kossen hat den Verein „Aktion Würde und Gerechtigkeit“ gegründet. Das Ziel: „Wir wollen Arbeitsmigranten aus Ost- und Südosteuropa stark machen und so dazu beitragen, dass ihre Integration gelingt. Würde und Gerechtigkeit wird ihnen in unserem Land oft vorenthalten“

Wir veröffentlichen den Vortrag von Peter Kossen, den er am 29.10.2019 in Vechta gehalten hat auf einer Veranstaltung des Landescaritasverbandes Oldenburg mit der Überschrift „Zur Situation von (EU-)Arbeitsmigranten im Oldenburger Land“:


Die „Oldenburgische Volkszeitung“ berichtete am Montag, 21.10., von acht Männern, die aus Syrien, dem Irak und dem Libanon stammen und als Reinigungskräfte bei Wiesenhof in Lohne von dem Subunternehmer, der sie beschäftigte, um ihren Lohn betrogen worden sind. Wenn man den Bericht liest, kommt einem alles sehr bekannt vor: 170,- € Lohn für 230 Arbeitsstunden, Bedrohung und Erpressung durch den Vorarbeiter, defekte oder fehlende Schutzkleidung, 500,- € als Eintrittsgeld für den Arbeitsplatz, sechs oder sieben Tage Arbeit in der Woche… Und auch die Reaktion der PHW-Gruppe kommt einem irgendwie bekannt vor: „Die Lohnabrechnungen der Werkvertragsarbeiter werden halbjährlich durch eine unabhängige Wirtschaftsprüfungsgesellschaft überprüft…“, so heißt es. Diese hätten keine Verstöße gegen geltende Gesetze festgestellt. Wenn ich heute etwas sagen soll zur Situation von Arbeitsmigrant*innen im Oldenburger Land, dann stelle ich fest: Es gibt nichts Neues! Das System der Ausbeutung läuft und läuft und läuft… Die Verantwortlichen sind bekannt. Konzerne verstecken sich hinter ihren kriminellen Subunternehmern. In Nordrhein-Westfalen hat Arbeitsminister Karl-Josef Laumann im Sommer 30 Großschlachthöfe kontrollieren lassen. Die Ergebnisse in Sachen Arbeitsausbeutung sind nach Laumanns Bekunden „katastrophal“. „Der Kossen spielt immer das gleiche Lied…“, hat mir der ehemalige Landrat des Landkreises Vechta, Clemens-August Krapp, mal gesagt. Recht hat er. Aber: Wie könnte ich anders?

Mein Bruder Florian behandelt Arbeitsmigranten, Frauen und Männer aus Rumänien, Bulgarien und Polen täglich in seiner allgemeinmedizinischen Praxis. Sie arbeiten in Großschlachthöfen in Wildeshausen, Ahlhorn und Lohne. Was er sieht und hört, macht ihn fassungslos und zornig. Die Totalerschöpfung der Patientinnen und Patienten ist fast schon alltäglich. Viele arbeiten sechs Tage in der Woche und zwölf Stunden am Tag. Sie haben keine Möglichkeit der Regeneration, weil sie durch ihre Arbeits- und Lebensbedingungen ständig physisch und psychisch unter Druck stehen. Daraus resultieren eine ganze Reihe von Krankheitssymptomen: Von Überlastungsschäden im Bereich der Extremitäten und Wirbelsäule über psychovegetative Dekompensationen bis hin zu wiederholten bzw. hartnäckigen Infekten durch mangelhafte hygienische Zustände in den Unterkünften und gesundheitswidrige Bedingungen an den Arbeitsplätzen. Im Frühjahr haben wir beide hingewiesen auf eine erbärmliche Unterkunft in Ellenstedt, in der nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder hausen. Hastig wurde von den Verantwortlichen baldige Verbesserung gelobt. Nichts ist passiert! Bereits im Sommer des vergangenen Jahres hatte mein Bruder berichtet: „Arbeitsunfälle wie Schnittverletzungen sind an der Tagesordnung. Häufig lassen sich die Verletzten aber nicht krankschreiben, weil ihnen vom Arbeitgeber ganz deutlich gesagt worden ist: Wer mit dem gelben Schein kommt, kann gehen. So geschehen bei einer Arbeiterin mit einer ca. 10 cm langen, mit Naht versorgten, Schnittwunde, die sie sich bei der Arbeit zugezogen hatte. Trotz mehrmaligen dringenden Anratens lehnte sie eine Krankschreibung ab.“ Ähnliches erzählen die Flüchtlinge, die bei Wiesenhof arbeiteten und betrogen worden sind. – Verätzungen am ganzen Körper sieht mein Bruder bei Patienten, die für Reinigungsarbeiten in den Schlachthöfen keine ausreichende Schutzkleidung zur Verfügung haben und zudem unter hohem Zeitdruck arbeiten. Ein Mitarbeiter einer Reinigungskolonne bei Wiesenhof in Lohne stellte sich in der Praxis vor, übersät mit ausgeprägtesten Verätzungen am ganzen Körper. Sämtliche Arbeiter der Reinigungskolonne, so berichtete er, hätten ähnliche Verätzungen, da es zwar Schutzanzüge gäbe, diese jedoch defekt und völlig unzureichend wären. Und jetzt hören wir von der Caritas-Beratungsstelle, dass sich nichts verändert hat, alles wie gehabt, nur, dass jetzt Flüchtlinge die Opfer sind. Immer wieder erzählen Patienten meinem Bruder von Kolleginnen und Kollegen, die aufgrund von Krankheit sofort aussortiert und ersetzt werden. Entsprechend hoch ist der Druck, trotz Krankheit und Schmerzen durchzuhalten. Ein bulgarischer Werkvertrags-Arbeiter eines Großschlachthofs in Wildeshausen hat meinem Bruder seine Lohnabrechnung gezeigt: 1200,- € für 255 geleistete Arbeitsstunden. Zur Ausbeutung kommt die Demütigung: „Du bist nicht mehr wert! Deine Arbeitskraft ist nicht mehr wert!“

Die Fleischindustrie behandelt im großen Stil Arbeitsmigranten wie Maschinen, die man bei externen Dienstleistern anmietet, benutzt und nach Verschleiß austauscht. Mit Ausnahme weniger wie Brand in Lohne, Schulte in Lastrup oder Böseler Goldschmaus in Garrel weigern sich die Unternehmen, Verantwortung für die Arbeits- und Lebensbedingungen der eingesetzten Arbeitskräfte zu übernehmen. Und man lässt die Unternehmen bisher gewähren – auf Kosten der Gesundheit der Arbeiter und auf (Sozial-)Kosten der Allgemeinheit.

Überall dort, wo Werkverträge und Leiharbeit das Mittel sind, um Arbeitskräfte wie Verschleißmaterial behandeln zu können, ist die Mitarbeiterfluktuation enorm hoch. Inzwischen werden die Arbeitskräfte aus immer ärmeren Regionen Osteuropas rekrutiert. Erst waren es Menschen aus Polen, später aus Rumänien, Ungarn und Bulgarien, jetzt kommen sie aus Moldawien oder der Ukraine, dann ist ihr Einsatz nicht selten illegal. Oder man verlegt sich darauf, geflohene Menschen anzuwerben und auszubeuten. Mein Bruder sieht jeden Tag, dass diejenigen, die es trotz der Menschenschinderei schaffen, über mehrere Jahre durchzuhalten, chronische Leiden davontragen. Durch die harte körperliche Arbeit in feuchten und sehr kalten Räumen unter ständigem Druck, noch schneller zu arbeiten, ist auch der Stärkste irgendwann physisch und psychisch am Ende. Durch die Arbeitszeiten sind die Betroffenen über Jahre hin nicht in der Lage, Sprachkurse oder Integrationsangebote wahrzunehmen. So sprechen viele kaum Deutsch. Rund um die Uhr haben sie bereit zu stehen, Arbeit wird häufig kurzfristig per SMS befohlen, Überstunden werden nicht selten spontan angeordnet. Die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in den Orten ist dadurch sehr erschwert. Eine Integration der Arbeiter und ihrer Familien kann so kaum stattfinden. Parallelwelten sind entstanden. Ein Übriges tut die auf Abschottung angelegte Unterbringung. Rattenlöcher, die zu Wuchermieten mit Werkvertragsarbeitern vollgestopft werden! Arbeitsmigranten hausen – zum Teil mit Kindern – in verschimmelten Bruchbuden. Alteingesessene Bürger zocken als Vermieter die Rumänen mit Wuchermieten ab. Es ist ganz erbärmlich und verwerflich, wehrlose Rumänen und Bulgaren abzuzocken!

„… Aber es hat sich doch auch schon manches verändert und ist besser geworden…“, so höre ich immer die Leute sagen, wenn der Missbrauch der Werkverträge und der Leiharbeit zur Sprache kommt. – Wo denn? Wo sind Arbeitsmigranten wirklich sicher vor Ausbeutung und Abzocke? – In der Fleischindustrie jedenfalls nicht! Auch anderswo scheut man sich nicht, die Not der Menschen aus Ost- und Südosteuropa auszunutzen. Das Wohlstandsgefälle innerhalb der EU begünstigt krasse Ausbeutung und eine Mehrklassen-Gesellschaft auf dem Arbeitsmarkt: Arbeitnehmer mit Tarifen und Rechten und solche, die in vielfacher Hinsicht um einfachste Lohn- und Sozialstandards betrogen werden.

Dass Rumänen und Bulgaren als gleichwertige Mitbürger und Nachbarn gelten und nicht missbraucht werden als Billiglöhner und Drecksarbeiter – davon sind wir noch weit entfernt! Große und namhafte Unternehmen und Persönlichkeiten dieser Region scheuen sich nicht, mit Subunternehmen und Leiharbeitsfirmen zusammenzuarbeiten, hinter denen verurteilte Straftäter stehen. Wer jedoch mit Menschenhändlern und Sklaventreibern gemeinsame Sache macht, ist mitschuldig am Menschenhandel und an der modernen Sklaverei in unserm Land.

„Wie kann das sein, dass Menschen so behandelt werden in Ihrer doch so christlich-katholisch geprägten Region?“, das bin ich oft gefragt worden. – Vielleicht, weil zu viele wegschauen, ihr Gesicht und ihren Namen nicht zur Verfügung stellen für eine klare Position dagegen?! –

Wer mit Kriminellen Geschäfte macht, ist selbst kriminell

Ein Sumpf von kriminellen Subunternehmern und dubiosen Leiharbeitsfirmen wird genutzt, um Lohnkosten zu drücken und Unternehmer-Verantwortung abzuwälzen. Wer mit Kriminellen Geschäfte macht, ist selbst kriminell. Wer sich die Mafia zunutze macht, ist Mafia! Das ist besonders verwerflich, weil es hier um Menschen geht, um deren Würde und Rechte. Ausbeutung von Menschen, Sklaverei, „funktioniert“ bis heute immer da, wo Menschen als Nummer geführt werden, wo sie kein Gesicht haben, keinen Namen und keine Geschichte. Osteuropäische Werkvertragsarbeiter sind uns meist nicht persönlich bekannt: Sie leben unter uns und sind doch Bürger einer dunklen Parallelwelt, eine große anonyme Gruppe, eine „Geisterarmee“: Arbeitskräfte ohne Gesicht, ohne Namen und Geschichte. So werden sie ohne Aufsehen und ohne schlechtes Gewissen ausgebeutet, betrogen und gedemütigt.

Das deutsche Arbeitsrecht

Das deutsche Arbeitsrecht geht davon aus, dass die Durchsetzung von Arbeitnehmerrechten Sache des Beschäftigten ist. Das ist leider weit weg von der Wirklichkeit. Eine Unterstützung durch Betriebsräte oder Gewerkschaften wird vorausgesetzt. Bei mobilen Beschäftigten kommt diese Unterstützung aber gar nicht zum Tragen. Betriebsräte und Gewerkschaften sind für Werkvertrags- und Leiharbeiter nur bedingt vertretungsberechtigt. Arbeitsmigranten in einem bestehenden Arbeitsverhältnis können ihre vorenthaltenen Ansprüche kaum geltend machen. Sie haben begründete Angst vor dem Jobverlust und vor den Kosten eines Rechtsstreits. Dieses Ausgeliefertsein und die faktische Unmöglichkeit der Durchsetzung von Arbeitnehmerrechten macht die Werkvertrags- und Leiharbeit so attraktiv für gewissenlose Manager und Menschenhändler und so anfällig für gnadenlose Ausbeutung in der Fleischindustrie, aber genauso auf dem Bau, in der Logistik und anderswo. Hier auf bessere Einsicht oder auf Menschlichkeit zu hoffen, ist leider naiv und realitätsfern. In Deutschland haben wir im internationalen Vergleich eine besonders starke Zersplitterung der Kontrollbehörden. Die Verlagerung einer Leiharbeitsfirma ins Nachbar-Bundesland bedeutet oft schon das faktische Ende strafrechtlicher Verfolgung.

Selbstverpflichtungserklärungen der Fleischindustrie

Selbstverpflichtungserklärungen der Fleischindustrie sprechen der Wirklichkeit Hohn. Allenfalls haben bestehende Selbstverpflichtungserklärungen den Sklaventreibern Luft und Zeit verschafft, ihr menschenverachtendes Geschäft unbehelligt weiter zu betreiben!

Der Mindestlohn wird umgangen und ausgehöhlt: durch eine Vielzahl unbezahlter Überstunden; 290,- bis 420,- € monatlich für ein Bett im vergammelten Mehrbettzimmer; Vermittlungsgebühren; Werkzeug oder die Benutzung des Pausenraums wird dem Arbeiter in Rechnung gestellt; Strafgelder; Gebühren für Übersetzungen; Vorarbeiter-Bestechung; Transport zur Arbeitsstelle; Erhöhung der Schlagzahl (Laufgeschwindigkeit des Fließbandes) …

Wenn der Rechtsstaat hier nicht völlig ad absurdum geführt werden soll, braucht es eine Behörde, die Recht und Gesetz durchsetzen kann. Die nicht, wie die Kontrollbehörden bisher, der Mafia machtlos hinterher schaut. An der Hygiene-Schleuse der Großschlachterei ist der Rechtsstaat am Ende seiner Möglichkeiten. Das kann man doch nicht einfach so hinnehmen! Passiert aber. Die Empörung darüber hält sich in Grenzen.

Prekäre Beschäftigung durch Sozialtransfers subventioniert

Menschen, die heute trotz schwerster Arbeit arm sind und arm bleiben, sie sind die Altersarmen von morgen. Und immer werden sie Sozialleistungen brauchen. Das bedeutet: Die Gesellschaft ermöglicht prekäre Beschäftigung durch Sozialtransfers. Wir subventionieren damit indirekt und ohne Grund verantwortungslose Geschäftsmodelle. Warum wehren sich unsere Kommunen hier nicht? Will die Politik das Unrecht nicht sehen? Oder ist sie machtlos? Und wenn ja, warum? Wer dirigiert die Politik in den Kommunen und Landkreisen, in Vechta, Visbek, Großenkneten, Wildeshausen und Oldenburg wirklich und mit welcher Berechtigung?

Rattenlöcher werden als Wohnungen vermietet: 500,- € für 17qm einer verschimmelten Bruchbude, ohne ausreichende Elektrizität mit undichtem Dach – mitten in Vechta! Wer kontrolliert hier wirklich? Rumänen und Bulgaren sollen bei uns schwerste Drecksarbeit machen und Steuern zahlen, sollen darüber hinaus aber unsichtbar sein und keine Ansprüche stellen! Wenn wie in Garrel über den geeigneten Ort für Betriebswohnungen gestritten wird, dann muss man doch sagen: Die Leute kommen nicht erst noch. Die sind schon lange da! Erzieherinnen in Lengerich erzählen mir von verstörten, verängstigten und geschwächten Kindergartenkindern, die in solchen Verhältnissen leben und aufwachsen. Manche verschlafen fast den ganzen Kindergartentag, weil sie nachts in den Unterkünften Gewalt, Alkohol- und Drogenmissbrauch und auch Prostitution miterleben.

Der deutsche Straßenstrich

Jeden Tag kaufen in Deutschland eine Million Männer den Körper einer Frau. Fast der ganze deutsche Straßenstrich wird bedient durch Mädchen und Frauen aus Rumänien und Bulgarien. So an der B 68 zwischen Bersenbrück und Bramsche. Oft sind es Roma, oft Analphabetinnen, nicht selten sind es Minderjährige. Sie werden hierher gelockt mit dem Versprechen einer Arbeit in der Gastronomie oder im Frisörhandwerk. Einmal in Deutschland angekommen, werden sie jedoch in großer Zahl zur Prostitution gezwungen und gefügig gemacht mit Drogen und angedrohter und mit ausgeführter körperlicher und psychischer Gewalt; und dies nicht selten von den gleichen Leuten, die im Hauptgeschäft Männer und Frauen als Billiglöhner in die Fleischfabriken schleusen. International agierende Rockerbanden zum Beispiel nutzen die Arbeitnehmer-Entsendung zum Menschenhandel. Zynisch formuliert kann man sagen: „Fleisch ist Fleisch“ und das eine wird so verächtlich behandelt und gehandelt, wie das andere – mit dem Unterschied, dass Tierhandel und Tierhaltung stärker reguliert ist…  Wenn in unserem Bistum gern an Clemens August Kardinal von Galen erinnert wird, dann muss man darauf hinweisen: Wir verraten hier das, was ihm heilig war: Die Würde jedes Menschen!

Schuldsklaverei, „Strafgelder“, Demütigung, Erpressung

Die Subunternehmer haben die Arbeiter und Arbeiterinnen direkt oder über Kontaktleute in ihren Heimatländern angeworben, oft mit Versprechungen bzgl. Lohn und Wohnung, die in der Realität nicht annähernd eingehalten werden. Die Arbeiter werden vielmehr in eine Abhängigkeit von ihrem Arbeitgeber gebracht durch eine Art Schuldsklaverei oder durch angedrohte und ausgeführte körperliche und psychische Gewalt gegen sie selbst oder ihre Angehörigen in der Heimat, durch Vorenthaltung von zustehendem Lohn, durch Einbehaltung des Reisepasses, durch Verquickung von Arbeits- und Wohnmöglichkeit, durch Abschottung vom deutschen Umfeld, durch das ausdrückliche Verbot, über Arbeit und Arbeitgeber zu reden, durch willkürliche „Strafgelder“, durch die Drohung, bei einem Ausstieg aus der Arbeit auf die „schwarze Liste“ gesetzt zu werden und nirgendwo in der Region neue Arbeit zu finden. Die Arbeiter werden hingehalten, gedemütigt und erpresst.

Das erste Wort, das Arbeitsmigranten in unserer Sprache lernen, ist „Schneller!“ Ärzte wie mein Bruder berichten sehr eindrücklich, was das mit Frauen und Männern macht, wenn sie 6 Tage in der Woche, 12 Stunden am Tag bei minus 18 Grad arbeiten oder immer den gleichen Schnitt durch einen Tierkörper machen oder 30kg-Kisten schleppen. Zur körperlichen Belastung kommt die psychische: Die Demütigungen, die Angst und die ständige Sorge, wie es morgen weitergeht. Menschen werden zu Krüppeln geschunden, dann aussortiert und ersetzt – mitten unter uns!

Sozialleistungen halten diese Menschen über Wasser, obwohl sie täglich schwerste Arbeiten verrichten. Wirtschaftlich gesunde Unternehmen rechnen ohne Not öffentliche Leistungen wie die Hartz- IV-Aufstockung, Kindergeld und Wohngeld von vornherein in ihre Lohnkalkulation mit ein, anstatt selbst die Leute so zu bezahlen, dass sie von ihrem Einkommen auch leben können. Das ist doch Sozialbetrug! Das sind Steuergelder, unrechtmäßige Subventionen! „Der Kossen erzählt uns nichts Neues, immer das Gleiche…“, sagen manche.  – Das ist doch der Skandal, dass es nichts Neues gibt! Seit Jahren nichts Neues. Menschen werden wie Dreck behandelt. Ein Umdenken ist nicht erkennbar. Kriminelle Subunternehmer werden ersetzt durch kriminelle Subunternehmer! Es wird sich nichts verändern, wenn nicht die Behörden wie der Zoll und die Gewerbeaufsicht rechtlich und personell in die Lage versetzt werden, effektiv die Einhaltung von Gesetzen zu kontrollieren!

Das Kapital hat dem Menschen zu dienen, nicht umgekehrt.

Menschenwürdig leben können, muss die Ermöglichung guter Arbeit sein, nicht ihr Lohn!

Menschen werden abgehängt, abgedrängt in Parallelwelten und Subkulturen, werden als Rumänen und Bulgaren diskriminiert und rassistisch herabgewürdigt. Paketdienste, Ausstall-Kolonnen, Fleischfabriken, Schiffsbauer, Landwirtschaft, häusliche Pflege – bis in Kleinstbetriebe, aber auch in Privathaushalten, hat man „seine Polin“ oder „seinen Rumänen“. Arbeitsmigranten werden behandelt wie Menschen zweiter Klasse, wie Leibeigene. Wer das zulässt, macht sich schuldig an diesen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, aber auch an unserer Gesellschaft. Unsere Werte verrotten auf diese Weise von innen.

Die ständige Ausweitung der Werkvertrags- und Leiharbeit in unserm Land und ihr Missbrauch zum Zweck von Lohn- und Sozialdumping hat ihren Ausgang genommen von der Fleischindustrie. Mittlerweile haben Teile der Metallindustrie, der Logistik und viele andere Branchen sich ein Beispiel genommen. Es geht dabei keineswegs um Flexibilisierung, sondern um primitive Lohndrückerei und das Absenken von Sozialstandards!

„Wegwerfmenschen“

Menschen werden benutzt, verschlissen und dann entsorgt – wie Maschinenschrott: „Wegwerfmenschen“. Weil es legal ist, viel Geld spart und Unternehmer-Verantwortung auf ein absolutes Minimum reduziert, hat dieses miese Beschäftigungsmodell Schule gemacht: Wegwerfmenschen bauen Kreuzfahrtschiffe und teure deutsche Autos, schuften als Scheinselbständige auf Baustellen, bei Ausstall-Kolonnen und als Paketzusteller. Der Rechtsstaat lässt es geschehen. Die Gesellschaft schaut weg.

Wer nicht den Mut hat, das System zu wechseln, die Sklavenhalter ins Gefängnis zu bringen und die Arbeiter in Festanstellung, der wird immer nur an den Symptomen herumdoktern, aber nie das Übel beseitigen. Das EU-Aufenthaltsrecht, kombiniert mit Hartz IV („nur der Mensch in Arbeit hat Recht auf Aufenthalt und Bezug von Sozialleistungen“) wird für viele EU-Bürger aus Rumänien und Bulgarien zur Falle, weil sie gezwungen sind, notfalls auch ausbeuterische Job-Angebote in der Fleischindustrie, auf dem Bau oder bei den Paketzustellern anzunehmen. Frauen sind aus diesem Grund leicht Opfer von Zwangsprostitution. Allein in der Stadt Münster gibt es deshalb 400 bulgarische Prostituierte. Wer die Schinderei nicht mehr aushält, wird weggeschickt, oft noch um den letzten Lohn geprellt: Wegwerfmenschen! Weil in der Regel ein Großteil der Arbeiter (80% oder mehr) nicht beim Schlachthof angestellt ist, sondern bei einem Subunternehmer, brauchen sich die Unternehmer der Fleischindustrie bei dieser Form moderner Sklaverei gar nicht die Hände schmutzig machen.

Was ist zu tun, um Arbeitsmigranten vor der Ausbeutung zu schützen?

  1.  Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort!
  2.  Unfallschutz und Krankenversicherung im Land der Arbeit, also hier und nicht irgendwo!
  3.  Ortsnahe, unabhängige, kostenlose muttersprachliche Rechtsberatung der betroffenen Arbeitsmigranten – bis vor Gericht!
  4.  Eine Arbeitskontrollbehörde, die Gesetze durchsetzt und kriminelle Strukturen zerbricht!
  5. Wohnungen für die Arbeitsmigranten und ihre Familien, Wohnungen, nicht Rattenlöcher!
  6. Zurück zur Stammbelegschaft! – Begrenzung der Werkvertrags- und Leiharbeit!

Wenn der Wernsing-Feinkost-Konzern immer schon ohne Werkvertragsarbeiter auskommt und die Großschlachterei „Böseler Goldschmaus“ die Arbeiter anstellt und ihnen Wohnungen baut, warum dann nicht Tönnies, Heidemark, Plukon, Wiesenhof, Westfleisch, Vion und Danish Crown, die Meyer-Werft, Daimler-Benz und VW??

Was muss denn erst noch passieren, damit die Landkreise und Kommunen einschreiten? Wie lange kann eine Gesellschaft wegschauen? Papst Franziskus schreibt über diese Entwicklung: „Der Mensch an sich wird wie ein Konsumgut betrachtet, das man gebrauchen und dann wegwerfen kann.“ Evangelii gaudium 53

Ich bin überzeugt: Eine Gesellschaft, die solches zulässt, zerstört das Leben dieser Menschen und letztlich auch sich selbst. Eine solche Gesellschaft kann technisch hoch entwickelt sein. Wenn ihr die Solidarität und das Bewusstsein für die unveräußerliche Würde eines jeden Menschen verloren gegangen ist, verliert sie ihre Kultur: die Wurzeln, aus denen sie lebt.

Verein „Aktion Würde und Gerechtigkeit“

Am 4. Januar habe ich mit einigen Fachleuten und Engagierten den Verein „Aktion Würde und Gerechtigkeit“ gegründet. Wir wollen Arbeitsmigranten aus Ost- und Südosteuropa stark machen und so dazu beitragen, dass ihre Integration gelingt. Würde und Gerechtigkeit wird ihnen in unserem Land oft vorenthalten. Das „Deutsche Institut für Menschenrechte“ stellt in seinem jüngsten Bericht für den Deutschen Bundestag zur Entwicklung der Menschrechtssituation in Deutschland fest:

„Arbeitsmigrant*innen erleben hier trotz gesetzlicher Änderungen und ausgebauter Unterstützungsstruktur nach wie vor schwere Ausbeutung, beispielweise auf dem Bau, in der fleischverarbeitenden Industrie, der Pflege oder Landwirtschaft. Das heißt, sie arbeiten letztlich für zwei bis drei Euro die Stunde, mit vielen Überstunden und ohne soziale Absicherung. Ein zentrales Problem: Sie können ihr Recht auf Lohn ganz häufig nicht durchsetzen. Fehlende Sprach- und Rechtskenntnis, Abhängigkeit vom Arbeitgeber, fehlende Beweismittel sowie ein erschwerter Zugang zu Beratung führen zu einer strukturellen Unterlegenheit gegenüber den Arbeitgebern, die durch bestehende einzelne rechtlichen Instrumente nicht ausgeglichen werden kann. Es braucht ein effektives Gesamtkonzept, mit dem der Staat seine grund- und menschenrechtliche Verpflichtung umsetzt, betroffenen effektiven Zugang zum Recht zu gewähren.“

Netzwerk von Unterstützer*innen vor Ort angestrebt

Der neugegründete Verein „Aktion Würde und Gerechtigkeit“ ist als gemeinnützig anerkannt und will durch ein Netzwerk von Juristen und juristisch geschulten Ehrenamtlichen den Rechtsweg für Arbeitsmigranten leichter zugänglich machen. Das beginnt damit, dass Anträge bei Gericht für Beratungshilfe und Prozesskostenhilfe übersetzt und Menschen, die kein Deutsch sprechen, bei der Antragstellung unterstützt werden. Juristische Beratung und Vertretung auch vor Gericht soll dadurch leichter zugänglich werden. Zugleich streben wir ein Netzwerk von Unterstützer*innen vor Ort an, also überall da, wo Arbeitsmigrant*innen leben und arbeiten, also überall. Da geht es um Möglichkeiten der Kontaktaufnahme mit Betroffenen, um Hilfe in akuter Not; unsere Mitarbeiter*innen können „Türöffner“ sein zu Institutionen und Behörden, auch zu Beratungsangeboten. Aufgrund von Berufserfahrung oder auch durch entsprechende Fortbildungen können erste Schritte der Beratung gegangen werden; Kontakte werden hergestellt zu Anwält*innen vor Ort und, wenn nötig, zu Sprachmittler*innen. Sozialrechtler*innen, Sozialarbeiter*innen, (Arbeits-)Mediziner*innen können ihre Fachkenntnisse einbringen. Die wichtigste Voraussetzung ist allerdings die Achtsamkeit für die Situation der Arbeitsmigrant*innen und die Bereitschaft, ihre Integration in unsere Gesellschaft zu unterstützen. In mindestens einem Ort überlegt die Flüchtlingshilfe, ob sie ihr Engagement auf die große Gruppe der Arbeitsmigrant*innen ausweiten kann. Dieses Beispiel greife ich auf und rege an, dass die Gruppen und Personen, die sich in der Flüchtlingshilfe engagieren, in Erwägung ziehen, Ihr Engagement auszuweiten auf die große Gruppe der Arbeitsmigranten, die wir überall und noch weitaus zahlreicher vorfinden, als die geflohenen Menschen. Die Fachkenntnisse darüber, was zu einer gelingenden Integration in unsere Gesellschaft nötig ist (Sprachkurse, Behördenkontakte, Wohnungssuche, Treffpunkte, Ausbildungsplätze, Zugang zu Sportvereinen und anderen Freizeitaktivitäten…) – diese Fachkenntnisse bringen die Engagierten der Flüchtlingshilfe mit. Und die Arbeitsmigranten aus Ost- und Südosteuropa brauchen sie so dringend und finden bisher fast nichts davon vor! Ich bitte die Flüchtlingshelfer*innen deshalb, darüber nachzudenken, ob sie auch dieser großen Personengruppe helfen können!

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