Evo Morales: Der Indio im Abseits

 

Autor: Boaventura de Sousa Santos

Die dramatischen Ereignisse in Bolivien sind einem imperialen Leitfaden gefolgt, den die Lateinamerikaner/innen inzwischen gut kennengelernt haben: Es geht um die Vorbereitung des Regimewechsels einer Regierung, die als feindlich gegenüber den Interessen der Vereinigten Staaten (oder besser gesagt der multinationalen amerikanischen Konzerne) eingestuft wird. Sie tun dies, indem sie einen doppelten Plan schmieden: einen „feindlichen“ Wahlsieg zu annullieren und das neue Regime, das Maßnahmen ergreift, die für eine Übergangsregierung nicht typisch sind, schnell zu konsolidieren. Es überrascht uns auf jeden Fall, was passiert ist, aber auch die Art und Weise der ersten Kommentare, die sich überwiegend kritisch gegenüber der Regierung von Evo Morales äußerten und aus einer ideologischen Richtung kamen, von denen man eigentlich eine entgegengesetzte Position erwartet hätte. In diese Debatte möchte ich mich gerne einbringen, weil ich in den jüngsten Ereignissen in Bolivien die Keime vieler Ereignisse sehe, die in den kommenden Jahrzehnten auf dem Kontinent und in der Welt auf uns zukommen werden. Ich beginne damit, das Auftreten Evos auf der internationalen Bühne zu beschreiben, um dann die wichtigsten Errungenschaften seiner Regierung in Gegenüberstellung zu deren Misserfolgen, von denen ich einige bereits früher kritisiert hatte, zu benennen. Ich schließe mit einer Bewertung mit Blick auf die Zukunft, nicht nur in Bezug auf die politischen Prozesse des Kontinents, sondern auch auf die kritischen Kommentare linker und feministischer politischer Sektoren.

Einordnung des Aufstiegs von Evo und die schwierige kritische Solidarität

Vor mehr als einem Jahrzehnt, am 12. April 2007, schrieb ich in einem Text mit dem Titel „Vom Süden lernen“: „Als Papst Paul III. 1537 in der Bulle Sublimis Deus verfügte, dass die Indios eine Seele hätten, eröffnete er einen langen historischen Prozess, der 2005 zur Wahl des ersten indigenen Präsidenten eines Landes führte: Evo Morales in Bolivien. Bolivien besitzt einen indigenen Anteil der Bevölkerung von 62% und ist eines der rohstoffreichsten und zugleich auch eines der ärmsten Länder Lateinamerikas … Der bolivianische Prozess ist zerbrechlich und mit ungewissem Ausgang. In Santa Cruz de la Sierra, dem Zentrum des Agrarkapitalismus, sah ich, wie konstituierende Versammlungen indigener Völker von rechtsextremen Gruppen beleidigt und angegriffen wurden. Was mich an der Haltung der Teilnehmenden an diesen Versammlungen beeindruckt hat, war, dass sie – im Gegensatz zur hegemonialen europäischen Linken – Kämpfer für bestimmte Ziele und keine Funktionäre von Dingen sind.“

Ich begleitete in den folgenden Jahren den politischen Prozess, der mit dem Wahlsieg von Evo Morales eingeleitet wurde. So schrieb ich am 3. Februar 2009: „Am 25. Januar nahm ich als internationaler Beobachter am Verfassungsreferendum von Bolivien teil. Dieses Referendum bestand aus zwei Fragen: Erstens, ob die neue politische Verfassung, die im Dezember 2007 in der verfassungsgebenden Versammlung angenommen und im Oktober 2008 durch politische Verhandlungen im Kongress geändert wurde, genehmigt wird oder nicht; und zweitens, ob die maximale Größe des Landbesitzes bei 5.000 oder 10.000 Hektar liegen sollte. Ich war davon überzeugt, Zeuge eines historischen Ereignisses zu sein, eines der tiefgründigsten und intensivsten demokratischen Prozesse unserer Zeit. Seit langer Zeit habe ich keinen Wahlakt gesehen, der so partizipativ war (mit einer Beteiligung von über 80% der Wähler/innen), der so intensiv als Fest der Demokratie begangen wurde, der logistisch so gut vorbereitet war und deren Helfer/innen so gut ausgebildet wurden … Unabhängig von seinem Ergebnis war dieses Referendum eine Lektion in Demokratie, gegeben von einem Volk, das tief davon überzeugt war, die wichtigen politischen Entscheidungen eines Landes dem Willen des Volkes zu unterwerfen … Es handelt sich um einen sehr reichhaltigen historischen Prozess, der aber auch sehr widersprüchlich und voller Risiken ist. Ich benenne hier die beiden Hauptrisiken:

Das erste Risiko bezieht sich auf das immer angespannte Verhältnis zwischen Demokratie und sozialer Gerechtigkeit. Diejenigen, die vor Jahren durch eine Untersuchung des PNUD1 beunruhigt waren, wonach die Lateinamerikaner/innen bereit waren, die Demokratie für eine Diktatur zu opfern, die ihnen ein gewisses Wohlergehen garantiert, müssen ihre Position überprüfen: Wenn sie eine glaubwürdige demokratische Alternative hätten, würden die Lateinamerikaner/innen sie mit Begeisterung unterstützen und von ihr erwarten, dass sie soziale Gerechtigkeit herstellt. Was ist aber, wenn das nicht passiert? Hier liegt das erste Risiko: Hohe Erwartungen führen zu großen Frustrationen und deren Folgen sind unvorhersehbar. Dieses Risiko ist in Bolivien noch schwerwiegender, weil sich die beiden Fragen des Referendums auf eine starke und mehrdimensionale Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit konzentrierten, die sozioökonomische, historische, kulturelle und ethnische Dimensionen miteinschloss. 61,47% der Bolivianer/innen stimmten für die neue Verfassung und 80,66% für die 5.000 Hektar als Obergrenze des Landbesitzes. Wir stehen vor einem neuen Konstitutionalismus, einem transformativen Konstitutionalismus, der sich mehr auf der Volksinitiative als auf der Initiative der Eliten stützt und die kulturelle und ethnische Vielfalt der Länder ausdrückt, anstatt deren vermeintlich homogenen und dadurch reduzierenten Vision nachzuhängen. Aber wird all diese staatsbürgerliche Energie, die stark genug ist, um innovative Verfassungstexte zu produzieren, auch stark genug sein, um diese in die Realität umzusetzen? Wenn nicht, dann ist das Risiko groß.

Das zweite Risiko besteht darin, ob der verfassungsgebende Prozess, in der Lage ist, eine neue demokratische Hegemonie zu schaffen, die die im ersten Halbjahr 2008 erkennbare Putschgefahr neutralisieren kann. Das Umverteilungspotenzial der neuen Verfassung wirkt sich wirtschaftliche auf eine dominierende soziale Klasse aus, die nicht bereit zu sein scheint, ihre Privilegien zu verlieren. Die bolivianische Opposition ist heute gespalten in einen Sektor, der in Evo Morales einen Gegner sieht, der bei den Wahlen besiegt werden muss, und einen anderen Sektor, der ihn als Feind sieht, der darüber hinaus auch noch ein Indio ist, der mit allen Mitteln gestürzt werden muss. Im Gegensatz zu dem, was die Massenmedien verbreiteten, hat die Regierung von Evo Morales eine enorme Verhandlungsbereitschaft an den Tag gelegt. Nur um ein Beispiel zu nennen: Entgegen des Verfassungstextes, der im Dezember 2007 von der verfassunggebenden Versammlung angenommen wurde, gilt die neue politische Verfassung, die im Oktober 2008 aus den Verhandlungen des Kongresses hervorgegangen ist, in Bezug auf den maximal zulässigen Großgrundbesitz nicht rückwirkend. Der ländliche Großgrundbesitz bleibt davon unberührt, solange er produktiv genutzt wird (wie dies auch in Brasilien der Fall ist). Trotzdem ist das zweite Risiko (der Zusammenbruch der Demokratie) real, aber um Bolivien zu neutralisieren, ist die Unterstützung anderer rechter Regierungen der Region erforderlich.“

Und im August 2012 schrieb ich: „Wer hätte sich vor einigen Jahren vorstellen können, dass Parteien und Regierungen, die als fortschrittlich oder links eingestuft werden, im Namen der Sachzwänge der ‚Entwicklung‘ die Verteidigung der grundlegendsten Menschenrechte aufgeben würden, wie zum Beispiel das Recht auf Leben, Arbeit und freie Meinungsäußerung und der Assoziation? War es nicht die Verteidigung dieser Rechte, durch die sie die Unterstützung der Bevölkerung erlangten und an die Macht kamen? Was passiert da eigentlich, wenn die Macht, als sie erst einmal erobert war, sich so leicht und so gewaltsam gegen diejenigen richtet, die dafür gekämpft haben, diese Macht zu erringen? Aus welchem Grund wird die Macht der ärmsten Mehrheiten zugunsten der reichsten Minderheiten ausgeübt? (…) In Bolivien setzt die Regierung von Evo Morales, einem Indio, der von der indigenen Bewegung an die Macht gebracht wurde, ohne irgendeine vorherige Beratung und mit Hilfe einer unglaublichen Abfolge von Maßnahmen und Gegenmaßnahmen den Bau einer großen Landstraße in indigenem Territorium (dem Naturreservat TIPNIS2) durch, um die dortigen Naturreichtümer auszubeuten. … Der Neoliberalismus zwingt seine Gier nach den Naturreichtümern auf, seien es Mineralien, Öl, Gas, Wasser oder die Agroindustrie. Aus den Territorien wird einfaches Land, und die dort lebenden Völker werden zu Hindernissen der Entwicklung, die so schnell wie möglich stattfinden muss. Für den extraktivistischen Kapitalismus ist die einzig wirklich akzeptable Regulierung die Selbstregulierung, die fast immer die Selbstregulierung der staatlichen Korruption einschließt. Wenn die Demokratie zu der Erkenntnis kommt, dass sie mit dieser Art von Kapitalismus nicht vereinbar ist und sich dazu entschließt, Widerstand zu leisten, kann es schon zu spät sein. In der Zwischenzeit könnte der Kapitalismus möglicherweise bereits zu dem Schluss gekommen, dass Demokratie nicht mit ihm vereinbar ist.“

Erfolge und Errungenschaften der Evo-Regierung

Die erste Regierung von Evo Morales (2006-2010), die die tiefgreifendsten gesellschaftlichen Transformationen durchgeführt hat, sticht vor allem durch Umsetzung der „Oktober-Agenda“ hervor, die für Bolivien zwei wesentliche Maßnahmen umfasste: a) die Verstaatlichung der fossilen Brennstoffe, die mit viel Symbolik am 1. Mai 2006 vorgenommen wurde (einige Kritiker sprechen davon, dass es sich in Wirklichkeit um eine Neuverhandlung von Verträgen mit den Ölfirmen gehandelt habe), und b) die Verfassungsgebende Versammlung, die nach einem schwierigen Weg zur Annahme einer neuen politischen Verfassung des plurinationalen Staates durch ein Referendum (Januar 2009) geführt hat.

Mit der Verstaatlichung der fossilen Brennstoffe und von strategischen Unternehmen wie der Telekommunikation (Entel), die aufgrund des Anstiegs der internationalen Rohstoffpreise mit einem enormen wirtschaftlichen Aufstieg einherging, ließ der bolivianische Staat sein Bettlerdasein (der „Staat mit Löchern “) hinter sich, und mit Evo Morales wurden Fortschritte in Richtung eines entwickelten Staates mit territorialer Präsenz erzielt. Öffentliche Investitionen wurden zur Hauptquelle eines Modells für Wachstum, wirtschaftliche Stabilität und Umverteilung, das von allen internationalen Institutionen gelobt wurde. Trotz Schwierigkeiten und Verzögerungen wurden wichtige Schritte unternommen, um die gewünschte Industrialisierung von fossilen Brennstoffen und anderen großen Vorhaben (Stromerzeugung, Eisengewinnung, Nutzung von Lithiumreserven) voranzutreiben.

Die neue Verfassung brachte Fortschritte und grundlegende Errungenschaften im Rahmen des neuen plurinationalen Staatsmodells mit internen Autonomien. Ein grundlegender Erfolg war die verfassungsrechtliche Anerkennung der „ursprünglichen indigenen Bauern“ als politisches Subjekt und deren Einbeziehung in die staatliche Struktur und in den öffentlich-politischen Bereich. Die Plurinationalität des Staates ist eine Errungenschaft, die sich im Aufbau befindet und deren größter Impuls das Ergebnis des Paktes der Einheit ist, in dem sich die verschiedenen Vorgängerorganisationen vereinigt hatten. Fortschritte wurden auch auf dem langfristigen Weg der Autonomien auf verschiedenen territorialen Ebenen erzielt, einschließlich der indigenen Selbstverwaltung.

Natürlich muss auch auf die Verringerung der Ungleichheit und der Armut als wichtige Errungenschaften hingewiesen werden. Während der Regierungsperiode von Evo verringerte sich die Armut nach offiziellen Angaben von 59,9 auf 34,6 Prozent, während die extreme Armut von 38,2 auf 15,2 Prozent zurückging. Hierzu trugen verschiedene Sozialmaßnahmen für schutzbedürftige Sektoren bei (Würdige Rente für ältere Menschen, Programm Juancito Pinto für Kinder im schulpflichtigen Alter, Programm Juana Azurduy für schwangere Frauen). Verschiedene Studien internationaler Organisationen, wie z.B. des PNUD, belegen als Errungenschaft der Regierung von Evo Morales auch die soziale Integration der neu entstandenen Mittelschicht, da der Anteil der Menschen mit einem mittleren Einkommen von 3,3 Millionen ( 2005) auf sieben Millionen (2018) angestiegen ist. Es gibt jedoch auch eine Debatte über die Nachhaltigkeit dieser wichtigen Ausweitung der Mittelschicht in Bolivien.

Es müssen auch die wichtigen Fortschritte hervorgehoben werden, die die Regierung von Morales aufgrund des neuen verfassungsmäßigen und regulatorischen Rahmens bei der Gleichstellung der Geschlechter, der Chancengleichheit von Frauen und Männern und insbesondere auch bei der gleichberechtigten Präsenz gewählter Frauen in den gesetzgebenden Körperschaften auf alle Ebenen (Plurinationale Gesetzgebende Versammlung, Versammlungen der Departamente, Gemeinderäte) durchgesetzt wurden. Möglich wurde dies durch den permanenten Impuls der Frauenorganisationen.

Weitere offensichtliche Erfolge in Bezug auf den Abbau von Ungleichheiten und die soziale Integration sind unter anderem die drastische Verringerung des Analphabetismus sowie günstige makroökonomische Indikatoren (Bolivien hat in den letzten Jahren das Wirtschaftswachstum in Südamerika angeführt) und die Halbierung der Arbeitslosenquote (von 8,1% auf 4,2%), die nachhaltige Erhöhung des Mindestlohns, die Erhöhung der Lebenserwartung, erhebliche öffentliche Investitionen in die Infrastruktur (insbesondere in Straßen und Tausende von Bauvorhaben in den Provinzen und ländlichen Gebieten). In jedem Fall ist es auch eine Errungenschaft, die an Indikatoren gar nicht gemessen werden kann, dass die Würde und Souveränität Boliviens im internationalen Kontext enorm gestärkt wurde.

Irrtümer und Misserfolge der Regierung von Evo

So wie die Regierung von Evo Morales unbestreitbare Erfolge vorzuweisen hatte, gab es auch Misserfolge und schwerwiegende Fehler. Zweifellos war es ein großer Fehler, den Veränderungsprozess mit der Entfremdung gegenüber den sozialen Organisationen und Bewegungen und durch ihre Kooptation oder gar Spaltung zu bürokratisieren. Als starke und autonome Organisationen nötiger waren denn je, um die erreichten Errungenschaften zu überwachen und abzusichern, wurden sie von staatlicher Seite durch die Vergabe von Posten und Pfründen an ihre Führungen geschwächt. Ein Fehler, auf den ich bereits in einigen Texten hingewiesen hatte, ist die frühe Entkonstitutionalisierung, das heißt die Nichtanwendung des Verfassungstextes. Nach Abschluss des Verfassungsgebungsprozesses zeigte die Regierung eine Schwäche in Bezug auf die praktische Umsetzung einiger wichtiger Grundsätze der Verfassung, insbesondere in Bezug auf die Ausübung (und nicht nur die Anerkennung) von Rechten.

Wir müssen auch die Irrtümer des Regierungshandelns erwähnen, wie das gescheiterte „Gasolinazo“ (2010)3, den Bruch mit den Indigenen der Tierras Bajas wegen des oben bereits erwähnten Straßenbauprojektes durch den Nationalpark TIPNIS (2011), die anhaltende Orientierung auf ein Entwicklungsmodell, das auf Megaprojekte und extraktivistische Unternehmungen setzt, die Missachtung vorheriger Konsultationen und weitere politische Maßnahmen zugunsten der Allianz der Regierung mit dem agroindustriellen Sektor von El Cruce.

Aus demokratischer Perspektive war die Durchführung und die spätere Nichtanerkennung des bindenden Referendums (im Februar 2016) über die Wiederwahl des Präsidenten sicherlich ein wichtiger Bruchpunkt. Dabei hatten etwas mehr als 51% der Bevölkerung die Reform von Artikel 168 der Verfassung abgelehnt, der eine erneute Kandidatur von Evo Morales, dem Kandidaten der MAS4 verbot.5 Außerdem tat sich der Veränderungsprozess auch schwer, neue Führungskräfte aufzubauen, was zur Folge hatte, dass er „Evo-abhängig“ wurde.

Der Staat hat auch seinen eigenen in der Verfassung verankerten plurinationalen und mit Autonomien versehen Charakter eingeschränkt. Trotz der anfänglichen Dynamik gab es Hindernisse und vielfältige Anforderungen für die Bildung autonomer indigener Bauerngemeinschaften, an die die Regierung anscheinend nicht glaubte. Das Gleiche geschah auch ganz allgemein mit dem Autonomieprozess, der aus mehreren Gründen nur schleppend vorankam.

Schließlich muss auch darauf hingewiesen werden, dass es ein Fehler war, die indigene Justiz der ordentlichen Gerichtsbarkeit unterzuordnen, obwohl der rechtliche Pluralismus ausdrücklich in der Verfassung verankert ist. Und das Grundprinzip des Buen Vivir6, das von indigenen Nationen und Völkern als alternatives Entwicklungskonzept übernommen wurde, wurde durch die oben bereits erwähnte Orientierung der Evo-Regierung auf eine national-populäre Agenda verwässert, die in der patriotischen Agenda der Zweihundertjahrfeier 2025 zum Ausdruck kommt, die ihrerseits einer speziellen Analyse bedarf.

Der Fall von Evo: der imperiale Putsch und die lokalen Eliten

Wenn die Fehler die Erfolge übersteigen würden, wäre es das „Natürlichste“ in der Demokratie, dass Evo Morales die Wahlen verloren hätte. Aber dies ist nicht das, was passiert ist. Der Fall von Evo war das Ergebnis eines Staatsstreichs. Die Rechte und einige Linke in Bolivien sowie die internationale Rechte bestreiten die Idee eines Staatsstreichs. Sie argumentierten, dass es keinen Staatsstreich gab, sondern einen „monumentalen Wahlbetrug“. Dabei konzentrieren sie sich auf die Proteste, die im Wesentlichen von der städtischen und traditionellen Mittelschicht getragen wurden, die 21 Tage das Land lahmlegten, um gegen das Wahlergebnis zu protestieren, die Evo erneut gewonnen hatte (wie es sogar von der OAS anerkannt wurde). Indem sie die Zulässigkeit der erneuten Kandidatur von Evo Morales bezweifelten, zeigten sie, dass sie nicht mit ehrlichen Absichten an der Wahl teilgenommen hatten. Sie missbrauchten die Demokratie, in dem sie sich ausschließlich auf das Szenario eines Wahlbetruges orientierten. So versuchten sie zu zeigen, dass Evos Rücktritt ausschließlich auf die „friedliche Mobilisierung“ der Bürger zurückzuführen war, die aus Respekt vor dem Wählervotum und aus Ablehnung „betrügerischer“ Wahlen auf die Straße gegangen waren.

So war es aber nicht. Ein Blick auf die Fakten zeigt, dass in Bolivien bereits seit langem ein Putschplan in Gang gesetzt wurde, der aus verschiedenen Komponenten bestand, die zwischen den lokalen Eliten und dem US-Imperialismus gut synchronisiert waren. Tatsächlich wurde die Rede vom „Betrug“ bereits Wochen vor den Wahlen festgezimmert. Und in verschiedenen örtlichen Versammlungen haben sich die Leute darauf festgelegt, die Wahlen nicht anzuerkennen, falls Evo die Wahlen gewinnen sollte. Dieser Diskurs wurde durch grobe Fehler des Obersten Wahlgerichts noch verstärkt. So kam es, dass der Protest der Opposition von der Forderung nach Neuwahlen dazu überging, den Präsidenten mit einem Ultimatum von 48 Stunden zum Rücktritt aufzufordern. Daraufhin begann die Polizei zu rebellieren, und sie nahm nicht mehr ihre Aufgabe wahr, die Sicherheit und die öffentliche Ordnung zu schützen. Die Regierung verhielt sich auch äußerst ungeschickt, als sie einen „vorläufigen Bericht“ der OAS veröffentlichte, in dem von „Unregelmäßigkeiten“ die Rede war. Der Putsch des Imperiums7 und die politischen Eliten, der das abrupte Ende eines verfassungsmäßigen Mandates bedeutete, erreichte seinen Höhepunkt mit der direkten Einmischung der Armee, die dem Präsidenten seinen Rücktritt „nahelegte“. Danach folgten gewaltsame Aktionen gegen Behörden und Führungspersönlichkeiten der MAS, die sie zum Rücktritt zwangen. Obwohl nach dem Rücktritt von Evo und seinem Asyl in Mexiko keine Militärregierung die Macht übernahm, konsolidierte sich der Putsch durch die Autoproklamation der zweiten Vizepräsidenten des Senats (deren Partei nur 4% der Stimmen im Senat erhalten hatte) als neue Präsidentin des Landes. Dabei berief sie sich auf die verfassungsmäßigen Nachfolgeregelungen und übernahm, unterstützt von der Polizei und den Streitkräften und ausgestattet mit konservativen religiösen Symbolen und rassistischem Revanchismus, ihr Mandat.

Wir haben also einen ersten Moment, in dem die Putschisten die in einer Demokratie legitime Mobilisierung der Bürger ausnutzten, um die Gewalt zu fördern (wie die Verbrennung von fünf Wahlgerichten in den Departamenten); einen expliziten Putsch, der das Präsidentschaftsmandat durch äußere Einmischung (der USA durch die von Almagro geführte OAS) und durch interne Akteure (zivile Politiker, Polizei, Armee, lokale Eliten) gewaltsam unterbricht; und eine immer noch fragile und unsichere Dynamik in demokratischen Bahnen, die mit der einstimmigen Entscheidung des von der MAS dominierten plurinationalen Parlamentes, Neuwahlen abzuhalten, eröffnet wurde. Bei der Bewertung der Ereignisse müssen auch die folgenden Vorkommnisse berücksichtigt werden: die beiden Massaker (von Sacaba und Senkata), die von Polizei und Militär begangen und kürzlich von der CIDH8 bestätigt wurden; vandalistische Aktionen; Aktivitäten von Gruppen, die Evo nahestehen, die die Städte belagern wollten; und die anhaltenden Operationen, durch die Personen unter der Beschuldigung der „Abspaltung“ oder des „Terrorismus“ politisch und juristisch verfolgt werden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Sturz von Evo nicht auf einen demokratischen Wahlakt zurückzuführen ist, durch den die Staatsbürgerschaft ihn wegen seines Wunsches nach Wiederwahl abgewählt hat: Er wurde mit der Ausführung eines Putschplans durchgeführt. Und heute sucht man nach einem schwierigen, prekären und wenig glaubwürdigen Weg, um zu einer demokratische „Normalität“ an den Wahlurnen zurückzukehren, während die Verletzung der Menschenrechte anhält. Eine Rückkehr, bei der Evo Morales und Álvaro García Linera ausgeschlossen bleiben, und mit einer Übergangsregierung, die beabsichtigt, internationale Verträge zu kündigen (wie den Rückzug von ALBA9 und UNASUR10), strategische Unternehmen zu privatisieren, die Agrargrenze noch weiter auszuweiten, die Wirtschaft zu liberalisieren und ihr die natürlichen Ressourcen zu übergeben, das diplomatische Korps massiv zu verändern, die Mitglieder des Obersten Wahlgerichts zu ersetzen, und insbesondere das kollektive Subjekt der indigenen Völker und der nationalen Volkssektoren aus dem politischen Horizont zu eliminieren und damit auch alle Forderungen, die in den Kämpfen der indigenen Völker entstanden sind (Buen Vivir, Plurinationalität, kollektive Rechte, gemeinschaftliche Demokratie, Respekt für die Mutter Erde).

Die imperiale Intervention nutzte interne Fehler, um den Einfluss Chinas auf den Kontinent in einem weiteren Land (nach Brasilien und Ecuador) zu neutralisieren. Die Rivalität zwischen den beiden Imperien (eines im Abstieg begriffen und das andere im Aufstieg) kennt keine demokratischen Regeln. Es geht um die Vorherrschaft in der neuen Globalisierungswelle, die auf künstlicher Intelligenz und 5G-Technologie basiert. Derzeit scheint China besser positioniert zu sein, um die Führung zu übernehmen, weshalb es mit positiven Anreizmaßnahmen (der neuen Seidenroute) international voranschreitet, während die USA mit Strafmaßnahmen (Embargos, Wirtschaftssanktionen, Regimewechsel, Aufstandsbekämpfung) intervenieren. Die multilaterale Fassade wird von der OAS bereitgestellt, die in der Region als Innenministerium der USA operiert. In den letzten Monaten unterzeichnete die Regierung von Evo Morales mit China einen Vertrag über die Gründung eines Unternehmens, das metallisches Lithium auf der Grundlage der riesigen Lithiumvorkommen in Bolivien herstellt, einem strategischen Mineral für die neuen technologischen Anforderungen. Daher war es notwendig, diesen Aufstand gegen die immer noch gültige Monroe-Doktrin (nachdem der Subkontinent der Hinterhof der Vereinigten Staaten ist) zu neutralisieren.

Daher wandte der US-Imperialismus ein bekanntes Drehbuch für einen Regimewechsel an, um den Zugang zu den strategischen natürlichen Ressourcen eines Landes in seinem Einflussbereich zu gewährleisten. Bolivien fungierte, wie zuvor in Brasilien, als Laboratorium für das, was kommen wird. Im Falle Boliviens kann man sagen, dass eine antiimperialistische Regierung niemals so viele Möglichkeiten für imperiale Einmischung bot und sich so schnell ergab (im klaren Gegensatz zu Venezuela). Aber der Imperialismus und die Eliten wissen, dass es Führungspersönlichkeiten gibt, die es trotz aller Fehler schaffen, die Herzen der verarmten, gedemütigten und vergessenen Klassen zu erreichen und dass trotz aller ihrer Fehler die Gefahr besteht, dass sie zurückkehren. Deshalb ist es notwendig, den Unterdrückungsapparat und das Justizsystem zu mobilisieren, um sie wegen Verbrechen anzuklagen, die sie für immer politisch ausschalten. So war es mit Rafael Correa, mit Lula da Silva und mit Cristina Kirchner (in diesem Fall vorerst ohne Erfolg). Das gleiche wird nun auch mit Evo passieren.

Kritische Bewertungen

Während des gesamten letzten Jahrzehnts gab es auf dem Kontinent viele Stimmen, die die Entwicklungsrichtung der Regierungen kritisierten, die sie als progressiv bezeichneten, um sie nicht als links zu charakterisieren. Alberto Acosta, Eduardo Gudynas, Maristella Svampa und viele andere kritisierten den Neoextraktivismus und all seine Auswirkungen auf das Leben der Bevölkerung, die in Widerspruch zu den Bestimmungen der Verfassungen standen. In diesem speziellen Fall können Raúl Prada und Luis Tapia in Bolivien hervorgehoben werden. Auch Silvia Rivera Cusicanqui, eine hartnäckige Kritikerin, die sich mit ihrer eigenen Stimme für eine Regierung von unten einsetzte, die auf den überlieferten politischen Strukturen der indigenen Völker basierten (eine Position, die aus eurozentrischer Sicht als anarchistisch angesehen werden könnte). Sie hatte Recht mit ihrer Kritik einiger Aspekte der Evo-Regierung, aber ihre allgemeinen Bewertungen erschienen mir häufig übertrieben.

Nach dem Sturz seiner Regierung kam die stärkste Kritik an Evo nicht nur von rechts, wie es zu erwarten gewesen war, sondern auch von Sektoren der Linken und von Seiten lateinamerikanischer Feministinnen, Weiße wie Mestizen. Diese Tatsache hat einige Ratlosigkeit verursacht und auch zum Aufruhr anderer Teile der Linken und des Feminismus geführt, insbesondere seitens der indigenen Frauenbewegungen. Angesichts der Hitze der jüngsten Auseinandersetzungen, nach 32 Toten und 700 Verletzten, nach dem proklamierten Triumph der weißen Überlegenheit in ihrer kreolisch-mestizischen Fassung und mit der evangelischen Bibel in der Hand über das satanische Heidentum der Pachamama,11 nach dem Verbrennen der Wiphala,12 nachdem die Indios wieder in die Ecken ihrer Unsichtbarkeit zurückgeschickt werden sollten (wie die schwarzen Völker im Südafrika unter dem Regime der Apartheid), nach alledem zu denken, dass heute gute (oder sogar bessere) Bedingungen bestehen würden, um die indigene Basisdemokratie aufzubauen, scheint mir der reine Wahnsinn zu sein. Ich kann nur hoffen, dass ich falsch liege.

Sicherlich verdient die Kritik einiger Sektoren der Linken, ob ausdrücklich feministisch oder nicht, eine tiefere Reflexion. Ich habe viele Male betont, dass die Kämpfe der Frauen eine der beständigsten Grundlagen für die wahre Erneuerung des Kampfes für eine gerechtere Gesellschaft und für eine Politik der Befreiung für das neue Jahrhundert darstellen. Argentinien, Venezuela und Chile bieten hierfür starke Beweise.

Außerhalb des Kontinents können wir weitere Beweise finden. Ich habe zum Beispiel darauf hingewiesen, dass die derzeitige Lösung der linken Regierung in Portugal (das einzige Land in Europa, das von einer stabilen linken oder einer Mitte-Links-Regierung regiert wird) zu einem guten Teil drei jungen Frauen in der Führung des Bloco de Esquerda13 zu verdanken ist, drei Frauen im Alter zwischen dem 39 und 42 Jahren. Für sie war es wichtiger, Bündnisse mit anderen linken Parteien einzugehen, um den Lebensstandard der Familien, die zwischen 2011 und 2015 unter der Welle des Neoliberalismus und der Austeritätspolitik zu leiden hatten, als an dem Sektierertum und Dogmatismus festzuhalten, die die Linke nahezu in aller Welt dominierten.

Aber es besteht kein Zweifel, dass sich nach dem Sturz der Regierung Evo Morales der Ton der Debatte verschärft hat, und der lateinamerikanische Feminismus scheint heute tief gespalten zu sein. Im Laufe des letzten Jahrzehnts haben viele indigene Aktivist/innen ihre Regierungen kritisiert, und sie taten dies immer aus einer konstruktiven Perspektive heraus. Um mich auf einige großartige Führungspersönlichkeiten zu beschränken, mit denen ich zusammengearbeitet habe, erinnere ich an Nina Pacari, Blanca Chancoso und María Eugenia Choque. Viele von ihnen bewahrten einen gewissen Abstand zu den Feminismen und lehnten es sogar ab, sich als Feministinnen zu betrachten, weil sie dachten, dies Bezeichnung gelte nur für weiße und Mestizen-Frauen. Wichtig war jedoch, dass sie viele Kämpfe gemeinsam bestritten haben.

Ich habe die Meinung vertreten, dass die drei großen Herrschaftssysteme unserer Zeit (seit dem 17. Jahrhundert) der Kapitalismus, der Kolonialismus und das Patriarchat sind. Die drei treten heute mit großer Virulenz auf und agieren gut aufeinander abgestimmt, denn die freie Arbeit des Kapitalismus kann sich ohne die Sklavenarbeit und ohne prekäre oder unbezahlte Arbeit nicht aufrechterhalten. Diese letztgenannten Formen der Arbeit werden von Bevölkerungsgruppen erbracht, die als Untermenschen gelten: aus Afrika stammende Bevölkerungsgruppen, indigene Völker, Frauen, Roma-Völker, niedere Kasten usw. Das Drama unserer Zeit besteht darin, dass die Herrschaftssysteme gut miteinander verbunden wirken, während der Widerstand dagegen fragmentiert ist. Wie viele antikapitalistische Bewegungen und Organisationen waren nicht rassistisch und sexistisch? Wie viele antirassistische Bewegungen und Organisationen waren nicht sexistisch und prokapitalistisch? Und wie viele feministische Bewegungen und Organisationen waren nicht rassistisch und prokapitalistisch? In dem Maße, wie diese Asymmetrie zwischen Herrschaft und Widerstand aufrechterhalten wird, wird es nicht möglich sein, aus der kapitalistischen, kolonialistischen und heteropatriarchalen Hölle herauszukommen, in der wir uns befinden. In dieser Asymmetrie können wir möglicherweise Hinweise finden, um das Unbehagen zu erklären, das durch einige Kritiken hervorgerufen wurde. Die zentrale Frage wird sein, ob die formulierte Kritik dazu beiträgt, die Fragmentierung des Widerstands gegen Kapitalismus, Kolonialismus und Patriarchat weiter zu vertiefen oder nicht.

Zwei weitere Faktoren sind ebenso wichtig. Einerseits müssen wir zwischen wichtigen Kämpfen und dringenden Kämpfen unterscheiden. Die antikapitalistischen, antikolonialen und antipatriarchalen Kämpfe sind alle gleich wichtig, aber je nach Kontext können einige dringlicher sein als andere. Was ist angesichts des brutalen Putsches des Imperialismus in Bolivien gegen Evo der dringlichste Kampf? ​​Die von Evo vorgeschlagenen demokratischen Lösungen (auch wenn sie verzweifelt sind) zu verteidigen oder ihn zu dämonisieren, als wäre er der einzige, der Schuld an seinem politischen Unglück hat? Wäre es angesichts der großen imperialen Aggressivität nicht dringlicher zu zeigen, dass linke Alternativen demokratisch innerhalb des Landes selbst gefunden werden müssen und in keiner Weise vom Imperialismus aufgezwungen werden dürfen?

Auf der anderen Seite müssen wir den Kairos, die Zeitpunkte und die Möglichkeiten voneinander unterscheiden. Es geht nicht darum, Kritik zum Schweigen zu bringen, sondern den richtigen Ton zu finden, der der nationalen und internationalen Rechten keine Gründe liefert, um ihre Aggressivität zu steigern. Könnten nicht beispielsweise die berechtigten Kritiken an Evos Neoextraktivismus zu einer Zeit und in einem Stil vorgebracht werden, die die nicht dazu führen, eine noch viel stärker neoextraktive Lösung mit weniger nationaler Souveränität und deutlich weniger Sorge um die soziale Umverteilung zu begünstigen? Das Kriterium besteht nicht darin, schwerwiegende Fehler der potenziellen Verbündeten zu vertuschen oder nicht, sondern Zeitpunkt und den Kontext zu analysieren. Und es muss klar sein, dass die Kritiken den antikapitalistischen, antikolonialen und antipatriarchalen Widerstand stärken oder ihn zumindest nicht schwächen. Werden die Armen, die heute ihre Toten beweinen, die bei den Massakern von Sacaba und Senkata umgebracht wurden (nach dreizehn Jahren, in denen das Militär nicht auf das Volk geschossen hat, etwas, was es in Bolivien noch nicht gegeben hatte), sich durch diese Kritiken an dem politischen Prozess, dem sie vielleicht zu sehr vertraut hatten, noch mehr verlassen oder eher begleitet fühlen?

Langfristige Herausforderungen

Unter vielen anderen möglichen wähle ich vier Herausforderungen aus, die den bolivianischen Kontext und sogar den kontinentalen Kontext überschreiten: den Staat, die lange Transition, die Verbindungen zwischen den Widerstandskämpfen und die Demokratie.

Erstens hat es der Staat, dessen Präsident Evo Morales war, nicht erreicht, plurinational zu werden. Es war sicherlich ein Staat, der sich um das Wohlergehen der Bevölkerung kümmerte, die unter Vergewaltigung, Diskriminierung, Vergessenheit und Demütigung gelitten hatte, aber er funktionierte aus einer kolonialen, zentralistischen und autoritären institutionellen und kulturellen Logik heraus. Das historische Erbe lastet gleichermaßen auch auf denen, die am meisten darunter leiden, selbst dann, wenn sie versuchen, dieses zu bekämpfen. Die indigene Geduld und der Widerstand sind in Jahrhunderten entstanden. Ein Land wie Bolivien wird nur dann vollständig demokratisch sein, wenn es von indigenen Völkern und nach indigenen Weltanschauungen regiert wird.

Zweitens macht es nur Sinn, die Staatsmacht zu ergreifen, wenn man sie darauf ausrichtet, den Staat zu transformieren. Die Macht des Staates muss genutzt werden, um einen langen Übergang zu einem wirklich plurinationalen, antikapitalistischen, antikolonialen und antipatriarchalen Staat einzuleiten. Das Lernen begann mit Evo, und endet nicht mit ihm. Im Gegenteil, dies ist nur ein Anfang. Nach 500 Jahren politischer Abwesenheit musste ein Beginn von 13 Jahren verwirrend und sogar widersprüchlich verlaufen.

Drittens müssen antikapitalistischer, antikolonialer und antipatriarchaler Widerstand immer so artikuliert werden, dass sie sich gegenseitig stärken. Auf theoretischer Ebene wissen das viele Bewegungen und insbesondere die große Mehrheit der feministischen Bewegungen. Das Problem ist, in jedem historischen Kontext das richtige Gleichgewicht und die politischen Kriterien zu finden, um dieses Ziel zu erreichen. Wir müssen lernen, gemeinsam und bescheidener voranzugehen, und zwar mit der Bürde unserer Unzulänglichkeiten unserer gegenseitig begangenen Fehler.

Viertens hat die liberale Demokratie keine Zukunft und läuft Gefahr, demokratisch zu sterben, indem sie immer wieder Antidemokraten oder Regierungen auswählt, die sich schnell von ihrer sozialen Basis trennen. Auf diese Weise wird die liberale Demokratie immer mehr mit neuen Formen der Diktatur verwechselt. Die wahre Tragödie des letzten Jahrhunderts bestand nicht darin, eine Demokratie zu legitimieren, die sich leicht der Diktatur ergab oder mit ihr verwechselt wurde. Die wahre Tragödie war, die Demokratie von der Revolution zu trennen. Wir müssen die Demokratie revolutionieren und die Revolution demokratisieren.

im spanischen Original erschienen bei: Publico.es, 03. Dezember 2019
https://blogs.publico.es/espejos-extranos/2019/12/03/evo-morales-el-indio-fuera-de-lugar/

Übersetzung: Matthias Schindler, 10.12.2019

Foto: https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Boaventura_de_Sousa_Santos

1 Programa de las Naciones Unidas para el Desarrollo, Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (d. Übers.).
2 Territorio Indígena y parque nacional Isiboro Sécure, Indigenen-Schutzgebiet und Nationalpark Isiboro-Sécure (d. Übers.).
3 Der Versuch der Regierung, die Treibstoffpreise am 26. Dezember 2010 massiv zu erhöhen, der nach massiven Protesten jedoch fünf Tage später wieder zurückgenommen werden musste (d. Übers.)
4 Movimiento al Socialismo, Bewegung zum Sozialismus, die Partei von Evo Morales (d. Übers.).
5 Diese Entscheidung des Referendums wurde später durch das Oberste Wahlgericht wieder aufgehoben, sodass Evo Morales letztlich trotzdem zur Wahl antreten konnte (d. Übers.).
6 Das gute Leben (d. Übers.).
7 Der USA (d. Übers.).
8 Comisión Interamericana de Derechos Humanos, Interamerikanische Menschenrechtskommission (d. Übers.).
9 Alianza Bolivariana para los Pueblos de Nuestra América, Bolivarianische Allianz für die Völker unseres Amerika (d. Übers.).
10 Unión de Naciones Suramericanas, Vereinigung der Südamerikanischen Nationen (d. Übers.).
11 Mutter Erde in den Sprachen Qechua und Aymara, die Göttin der Welt (d. Übers.).
12 Fahne der indigenen Völker der Anden (d. Übers.).
13 Linksblock, ein Zusammenschluss verschiedener linker Organisationen, der die sozialistische Minderheitsregierung in Portugal parlamentarisch unterstützt (d. Übers.).

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