Der „Schlafende Riese“ und seine blinden linken Kritiker

Wer glaubt den Riesen aufwecken zu können? Für wen mag er hellwach und gefährlich sein?

Anmerkungen zu dem Artikel von Falk Prahl:
Von der Kampforganisation zum „Krisenkorporatismus“. Warum mobilisieren die Gewerkschaften in der „Corona-Krise“ nicht ihre Mitglieder?

Der Autor stellt die Frage: Warum mobilisieren die Gewerkschaften in der „Corona-Krise“ nicht ihre Mitglieder? Eine Antwort wäre: „Weil sie im gegnerischen Lager stehen und ihre Aufgabe darin sehen, den sozialen Frieden in Betrieb und Gesellschaft zu bewahren oder wieder herzustellen!“

Eines von beidem geht nur: Sozialen Frieden herstellen oder die Mitglieder mobilisieren! Wie kann der Autor also die von ihm gestellte Frage beantworten? Zumal er leider auch nicht unterscheidet zwischen Gewerkschaftsführungen, Gewerkschaftsapparaten und der Mitgliedschaft.

Da er „den Gewerkschaften“ eine falsche Realität unterstellt, macht er sich die Beantwortung der von ihm selbst gestellten Frage schwierig…

Er titelt seinen Artikel: Von der Kampforganisation zum „Krisenkorporatismus“. Leider geht er mit keinem Wort darauf ein, wann denn die Gewerkschaften Kampforganisationen gewesen sind und dass der heutige Korporatismus ein freiwilliger, kein erzwungener, ist. Und dass die DGB-Gewerkschaften ihre Sozialpartnerschaft seit 1954 dem Staat und Kapital geradezu aufgedrängt haben.

Dieser Prozess ist nachzulesen, z.B.: Wie die Faust in eine Bettelhand verwandelt wurde:

Der Autor beginnt seinen Artikel, indem er „den Gewerkschaften“ Frühjahrsmüdigkeit und Winterschlaf unterstellt. Nichts falscher als das! Sie sind hellwach und beobachten sowohl in den Betrieben als auch in Politik und Gesellschaft aufmerksam alle Vorgänge – und agieren entsprechend.

Der Autor baut, nicht nur bildhaft!, einen schlafenden Riesen auf.

(Dazu muß man anmerken: Für uns sind sowohl die 42 Millionen Lohnabhängigen als auch die sechs Millionen Gewerkschaftsmitglieder „schlafende Riesen“ insofern, als sie sich ihrer potentiellen Macht nicht bewusst sind. Für den Autor Falk Prahl jedoch scheint der „schlafende Riese“ „der DGB“ zu sein).

Und der muß in seiner Intention durch Appelle und Kritik geweckt werden. Dieser Art Umgang mit dem „schlafenden Riesen“ artet, wie bei vielen anderen linken Autoren auch, in Jammern und Besserwissen aus. Man mag es nicht mehr hören. Der Autor weiß es besser als die Führungen der DGB-Gewerkschaften! Und gibt ihnen viele gute Ratschläge! Aber genau so machen es ja auch die Führungen der DGB-Gewerkschaften mit den Firmenleitungen und in der Wirtschaftspolitik. Sie wissen es besser und geben wohlfeile Ratschläge – natürlich nur im Interesse der Mitglieder, damit die einen Aktivitätsbeweis erhalten sollen: „Wir tun was!“ Bellen ohne beißen. Nur Wortgeklingel.

 

Das Ganze: Ein absurdes Theater.

Der Autor schreibt einen Artikel, in dem er den grundlegenden gesellschaftlichen Konflikt zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten nicht einmal erwähnt, geschweige denn in den Mittelpunkt stellt!. Und dass die DGB-Gewerkschaften mit ihrer Ideologie der Sozialpartnerschaft sich auf die Gegenseite geschlagen haben. Dadurch ist es ihm möglich, den Korporatismus (gemeint ist Sozialpartnerschaft) der DGB-Gewerkschaften in dieser, seiner Weise zu kritisieren. Was bezweckt er? Eine „solidarische, aufbauende“ Kritik an den Gewerkschaftsführungen? Brücken schlagen zwischen Gewerkschaftslinken und Gewerkschaftsführungen? Dabei verlieren aktuell immer mehr Menschen ihre Illusionen in die Marktwirtschaft: Eine Partnerschaft zwischen Fuchs und Gans kann es nicht geben! (Als ehemaliger Dörfler weiß ich, wie stark Gänse mit ihren Schnäbeln und Flügeln sein können!).

Den Korporatismus (die Sozialpartnerschaft) gibt es nicht erst in dieser Krise. Es gibt ihn seit über100 Jahren, begonnen mit der Politik des Burgfriedens im 1. Weltkrieg  dem Stinnes-Legien-Abkommen, der ZAG (Arbeitsgemeinschaft mit den Kapitalsverbänden) des ADGB (und Vorläufer Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands) mit dem Kapital. Man kann sagen: Je mehr der Kapitalismus sich in einer Krise befand, desto stärker die Ankettung von Gewerkschaftsführungen und SPD-Führung an das Schicksal des Kapitals. Ankettung und Unterwerfung sind grenzenlos, bis zur Selbstaufopferung. Ich werde an Berichte aus dem 19. Jahrhundert aus Südamerika erinnert, wo geschildert wird, wie Feldsklaven sich zusammen fanden in Aufständen gegen den Besitzer der Hazienda. Die Besitzer waren schon geflohen, aber die Haussklaven verteidigten das Eigentum ihres Besitzers und opferten sich im Kampf mit den Feldsklaven.

Zurück in die Gegenwart, die Nachkriegszeit: Der Korporatismus hat sich seit der politischen Ausschaltung des angesehenen und beliebten Gewerkschaftsführers Viktor Agartz im Jahre 1954 raumgreifend in den Gewerkschaften als herrschende Ideologie ausgebreitet. Agartz, selbst im DGB- und SPD-Vorstand, wurde von Adenauer, SPD- und DGB-Spitze, Verfassungsschutz, CIA mit einer Anklage „Hoch- und Landesverrat“ politisch ausgeschaltet. Sein Verteidiger, Gustav Heinemann, der spätere Bundespräsident, erstritt einen absoluten Freispruch. Agartz war danach jedoch politisch tot. Er hatte für eine kämpferische Gewerkschaftspolitik gestanden und war gegen die Westbindung der BRD.

Seitdem wurden die Gewerkschaften mehr und mehr pro-westlich, pro NATO und antikommunistisch ausgerichtet, genau wie die gesamte BRD-Gesellschaft.

Korporatismus gibt es also seit Jahrzehnten! Nur drei Höhepunkte: Die „Konzertierte Aktion“ der 1. Großen Koalition 1966 und den Zukunftspakt der DGB-Gewerkschaften mit Kapitalsverbänden und Bundesregierung 2016. Hier eine Beschreibung und Kritik dazu von Alwin Altenwald.

Und diese aktuelle Meldung muß man wohl als dritten willkürlich ausgewählten Höhepunkt bezeichnen:

DGB-Gewerkschaften retten Kapitalismus

Die Gewerkschaften gehen voran: Mit Startkapital von IG Metall und IG BCE wird ein Fonds für Eigenkapitalhilfen aufgebaut.

https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/hilfe-fuer-kleine-autozulieferer-in-der-coronakrise-frank-juergen-weise-leitet-neuen-beteiligungsfonds/26001140.html

Hier muß man hoffend anmerken: Wacht der „schlafende Riese“, hier die Mitglieder der IGM und der IG BCE, vielleicht endlich auf, wo es ihm ans Portemonnaie geht? Ihm werden die Mittel in der Krise gekürzt und jetzt sollen seine Gewerkschaftsbeiträge an die Gegenseite gehen?

Unsere Adressaten sind – sehr selten – die Gewerkschaftsführungen und -apparate sondern die Mitglieder der DGB-Gewerkschaften. Sie allein sind fähig, Realität und Praxis in den Gewerkschaften, ihr Wesen, zu ändern. Und die KollegInnen gilt es aufzuklären über den Charakter der DGB-Gewerkschaften, wie und warum sie zu dem geworden sind, was sie sind.

Statt Aufklärung produziert der Autor Ideologie und Illusion. Der angeblich nur zu erweckende „schlafende Riese“, so wie der Autor ihn sieht, ist ein gefährlicher Koloss – der auf der Gegenseite steht. Der „schlafende Riese, der kein schlafender sondern ein wacher, beobachtender ist, hat seine „Riesenkraft“, zumindest derzeit, nicht durch seine Mitglieder, sondern durch die Energiestränge, das heißt Polit- und Anerkennungsstränge, die ihn zu einem Riesen machen im gemeinsamen Kampf gegen seine Kritiker. Und die kommen von der Politik, vom Kapital, von den Medien, von den Kirchen.

Der wirklich schlafende Riese sind die (fast) sechs Millionen Mitglieder. Indem diese sechs Millionen mehr und mehr aufwachen, erwecken sie den scheinbar schlafenden Riesen zum Leben.

Mit seiner Illusionserzeugung verfestigt der Kollege Prahl den aktuellen Zustand, stärkt den sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaftsapparat und dessen Sozialpartner dazu. Es ist ein Krieg um die Köpfe, ein Krieg zwischen herrschenden Eliten in Kapital und Politik gegen alle emanzipatorischenKräfte.

Der Autor zitiert einen Satz vom letzten Gewerkschaftstag der IGM: „Unsere Gesellschaft ist heute so gespalten und polarisiert wie lange nicht. Die neoliberale Politik der letzten Jahrzehnte hat eine verfestigte, soziale Ungleichheit geschaffen“. Er stellt das fest und gibt dann wohlfeile Ratschläge. Aber er scheut sich, zu konstatieren, dass eben die IGM (in Arbeitsteilung mit der SPD) die Gesellschaft mit gespalten und die neoliberale Politik mit unterstützt und praktiziert hat.

Alwin Altenwald, Juli 2020

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