Die freie Wirkung der Sonnenstrahlen…!

Thesen über den Zustand unserer Gesellschaft sowie Perspektiven für gesellschaftliche und politische Kämpfe

Es ist kalt geworden nicht nur in Deutschland: Die Krise des Finanzkapitalismus als globalem gesellschaftlichem Modell droht entweder in einem Weltkrieg zu explodieren oder in einem grenzenlosen Bürgerkrieg zu implodieren. Um zu retten, was für sie zu retten ist (oder wenigstens ihr Ende hinauszuzögern), greifen die Herrschenden zu dem Mittel, das schon immer ihre Krisenlösung war: Senkung des Lebensstandards für die (hand-)arbeitende Klasse und ideologische Polarisierung der Gesellschaft. Nein, keine Polarisierung im Namen
des Klassenkampfes, sondern eine Mobilisierung gegen den äußeren und inneren „Feind“, eine, die die Klassenfrage verschwinden lassen soll. Als Dreingabe werden mehr oder minder religiöse Heilsversprechen abgegeben. „Wenn wir erstmal… den Feind im Osten besiegt, …die Mächte der autokratischen Finsternis vernichtet, …den Feind im Inneren besiegt haben, …genug Windräder haben aufbauen lassen…, ja dann wird es allen wieder gut gehen!“, verkünden sie.
Dass die herrschenden Klassen dieses Programm verfolgen, erstaunt nicht. Sehr wohl aber, dass ein Teil der Linken dabei mitmacht. Ebenfalls mag es erstaunen, dass vor allem aus dem sich als „antiautoritär“ und „zivilgesellschaftlich“ verstehenden Milieu heraus die aggressivsten Stimmen laut wurden und werden. Die Massivität der verbalen und auch körperlichen Angriffe, mit der wir seit den Corona- Jahren konfrontiert waren, hätten wir uns
vor wenigen Jahren kaum vorstellen können. Ebenso wenig die Bereitschaft, staatliche und betriebliche Zwangsmaßnahmen mitzutragen oder sogar noch einzufordern. Warnzeichen mit noch weit drastischeren Folgen gab es allerdings: Etwa die breite Zustimmung eines ähnlichen Milieus in Ägypten zu den Massakern der an die Macht geputschten Militärjunta in Ägypten 2013; die hierzulande populäre Kampagne „Adopt a revolution“ für ein Eingreifen der NATO in den Bürgerkrieg in Syrien; die mit Achselzucken quittierte Dominanz
nationalistischer und faschistischer Kräfte beim „Maidan“ in Kiew Ende 2013/14 u.a.m. Dieses Milieu ist heute sehr stark akademisch geprägt, aber nicht ausschließlich; unter den Unterstützern der Militärjunta in Ägypten und der Junta in der Ukraine finden sich auch Vertreter „Unabhängiger Gewerkschaften“, denen ihr grundsätzliches Engagement und persönliche Opferbereitschaft nicht abzusprechen ist. Der Mythos „Rojava“ lässt international Freiwillige erst in den syrischen Bürgerkrieg ziehen und von dort weiter zur Waffenbrüderschaft mit dem Azov- Regiment u.a. nationalistischen Verbänden.
Entsprechend sind auch in Deutschland kleine Gruppen wie die anarchosyndikalistische „Freie Arbeiter-Union“ oder das „Anarchist Black Cross“ damit beschäftigt, Geld für Waffen für unsere „Brüder und Schwestern in den Schützengräben“ der Ostfront zu sammeln. Wir stehen also vor einem politischen Problem, dem wir allein mit Polemiken gegen einzelne
Gruppen oder populäre Vertreter dieses Milieus nicht beikommen. Wir müssen versuchen, zu verstehen, welche gesellschaftlichen Entwicklungen heute ihre Wirkung entfalten. Es gibt glücklicherweise viele, die über die Ausweitung des Verbotes der Kritik an staatlichen Maßnahmen über „Seuchengesetze“ hinaus auf die an der (faktischen) Beteiligung Deutschlands am dritten Krieg mit Russland in den letzten hundert Jahren unsicher geworden sind. Es gibt auch viele junge Menschen, die erst in der Zeit des Lockdowns politisiert worden sind und die Auseinandersetzungen nicht „live“, sondern in den sozialen Medien mitbekommen haben.
Um an dieser Stelle eine von vielen Fragen in den Mittelpunkt zu stellen: Wie funktioniert heute die Konditionierung der Öffentlichen Meinung (Medien)?

Wie wird heute nicht nur das Recht auf eine individuelle Meinungsäußerung, sondern auch eine kollektive Diskussion versucht, zu verhindern?
Was bedeutet „Neoliberalismus“?
Neoliberalismus ist nur ein anderer Begriff für den Finanzkapitalismus; sein Vorgänger, der „Fordismus“, beinhaltete ein für die Nachkriegsgesellschaften prägendes Modell, in dem die Hauptantriebskraft für die politische Organisation der Gesellschaft in der industriellen Produktion lag (=“Fordismus“). Aus der Krise dieses Gesellschaftsmodells heraus entwickelte sich eine Vorherrschaft des Finanzkapitals, das allein der Akkumulation von (größtenteils fiktiven) Vermögenswerten Wert beimaß. Dieses hatte auch Auswirkungen auf die politische Verfassung des Staates: Der Rückzug des Staates aus seinen historischen Kernaufgaben, wie der gesamten öffentlichen Infrastruktur (Verkehr, Bildung, Soziales, Wohnungsbau… bis hin zu Polizei und Militär) und die Einführung von betriebswirtschaftlichen Beziehungen allerorten hat u.a. auch die Mechanismen einer öffentlichen „demokratischen“ Mitbestimmung erodieren lassen. Dort, wo einer Vermögensakkumulation enge Grenzen gesetzt sind (wie etwa der sozialen Fürsorge), wird die Arbeit tendenziell in den unbezahlten
privaten Bereich verschoben: zu Familien oder durch eine Ideologie zusammengehaltene Gemeinschaften oder Communities. Dort finden wir einen Graubereich, in dem professionelle Trägerinstitutionen und deren Projektmanager die unbezahlte „ehrenamtliche“ Arbeit organisieren. Die zahlreichen sozialen Kämpfe der 60er und 70er Jahre haben sich an
grundlegend anderen Strukturen entzündet: Sie haben sich an vielen Stellen gegen den „totalitären“ Charakter der kapitalistischen betrieblichen und staatlichen Institutionen gewehrt. Aber sie haben gleichzeitig die Gesamtheit der Gesellschaft im Auge gehabt und die Beteiligung aller Lohnabhängiger an gesellschaftlichen Weichenstellungen eingefordert, statt Partikularinteressen einzelner Untergruppen zu formulieren. Der heutige „Community-Kapitalismus“ ist nicht weniger totalitär als der fordistische „Planstaat“, aber auf eine andere
Art.
Die staatliche Seuchenpolitik als Versuchsfeld „Corona“ hat den Trend zur Privatisierung staatlicher Aufgaben und Kompetenzen beschleunigt. Wenn wir uns an die Diskussion um eine Impfpflicht erinnern: Sie ist unter anderem durch das Hausrecht für Unternehmen und Institutionen durchgesetzt worden, d.h.,
ein Recht, gegen das kein gerichtlicher Einspruch vorgesehen ist. Nicht einmal das Diskriminierungsverbot sollte in diesem Fall greifen. Statt dass der Staat Anordnungen erlässt und für seine Entscheidungen die Verantwortung trägt, und statt einer juristischen Legitimation greift in diesem Fall eine Legitimation durch das „gesunde Volksempfinden“/eine mediale Legitimation durch einen vermeintlichen gesellschaftlichen Konsens. Die Auslagerung von sozialen Aufgaben des Staates an Projektträger, die punktuell „Solidarität mit den Schwachen“ organisieren sollen (wie etwa die Unterstützung von

Migrantencommunities“, die durch die Coronamaßnahmen besonders getroffen waren) entfaltet ihre Wirkung auch durch die Zusammenarbeit mit privaten und (halb-) öffentlichen Stiftungen: Die Projektträger werden vom Staat ins Leben gerufen und müssen ihre alltägliche Arbeit durch die Einwerbung von Kooperationspartnern und -geldern immer wieder auf’s Neue organisieren. Die befristet Beschäftigten müssen die Fortführung ihrer Arbeitsverhältnisse selbst organisieren. Sie stehen unter dem Druck, ihre Arbeit immer wieder bei den Geldgebern zu legitimieren, indem sie ihre Ziele denen der Stiftungen

anpassen. So müssen „Berater gegen Rechtsextremismus“ (o.ä.) immer wieder neue „Rechtsextreme“ oder mindestens „Rechtsoffene“ oder wenigstens
„Verschwörungsideologen“ entdecken und in die Öffentlichkeit zerren, um ihre Arbeit und damit ihren Lohn zu erhalten. So entsteht eine Eigendynamik, die immer abstrusere Formen annimmt. Das o.g. „Mobile Beratungsteam“ bspw. zählt die auf Hauswände gesprühten „Z‘s“ in einzelnen Stadtteilen, um die Gefahr eines russischen Einflusses in der Gesellschaft zu belegen… In dem gleichen Irrsinn funktioniert heute der universitäre oder der Medienbereich.
Solange die prekär beschäftigten Projektangestellten in Medien, Unis, Institutionen, sozialen Trägern usw. diese Strukturen nicht benennen und dagegen kämpfen, müssen sie das Spiel mitspielen. Statt zu benennen, dass sie auf Geheiß ihrer Brötchengeber denken und handeln, versehen sie diese ihre Arbeit noch mit dem Glanz der „Wissenschaft“ („follow the science“) oder einer alternativlosen moralischen oder sachlichen Logik („Wir sind die Solidarischen!“). Margaret Thatcher lässt grüßen: „There Is No Alternative“, kurz „TINA“. Angela Merkel nannte es „marktkonforme Demokratie“ und das grüne Mittelstandsmilieu „postdemokratische Gesellschaft“. Die unsichtbare Leine, an der man geht, ist manchmal weiter, manchmal enger gespannt; sie ist als Managementtechnik auch darauf angewiesen, dass manchmal geruckelt wird, um daraus neue Herrschaftstechniken entwickeln zu können.
Begrenzte Konflikte sind erwünscht, solange sie den Herrschaftsmechanismus nicht in Frage stellen. Sie dürfen Widersprüche der Gesellschaft als Verteilungsfragen thematisieren und spezifische Untergruppen in den Vordergrund stellen. NGOs als Lobbyorganisationen für bangladeschische Näherinnen, osteuropäische Trucker, ethnischen Untergruppen usw. sind
erlaubt und werden gefördert. Aber wehe, die Objekte der Fürsorge verhalten sich nicht so, wie erwartet. Als viele Krankenschwestern und Altenpflegerinnen sich der Impfung verweigerten, als osteuropäische Trucker sich nach der russischen Sputnik- nicht auch noch den guten Pfizer-Stoff allein aus Staatsraison heraus injizieren lassen wollten, wurden aus den milden Engeln plötzlich todbringende Monster…
Wer sich fragt, warum die meisten (west-)ukrainischen „zivilgesellschaftlichen“ Initiativen für Arbeiter, für LGBTQ, für Roma usw. offiziell den Krieg unterstützen, kann die Antwort vielleicht bei ihren Stiftungsherren finden, der Soros- Stiftung, der amerikanischen AFL- Stiftung, dem u.a. von der CIA finanzierte National Endowment for Democracy usw. Die unsichtbare Leine und die Spielräume für Engagement ermöglichen die Einbindung sogar von „Anarchisten“ in die kapitalistischen Herrschaftsmechanismen.
Aber auch von der Seite der „Kunden“ her wirkt der Druck, sich als spezifische Gruppe Gehör zu verschaffen und einen Teil vom Kuchen abzubekommen. Statt an der Einheit als lohnabhängige Klasse zu wirken, zerlegt sich die Gesellschaft in immer mehr Untergruppen, die besondere Aufmerksamkeit verlangen. In verschärfter Form steigert sich der Kampf um Aufmerksamkeit zum „Kulturkampf“, in dem man einen beim Rest der Welt konstatierten „Werteverfall“ entgegentreten müsse: Konservative beklagen einen Verfall traditioneller
Familienwerte, Religiöse einen Verfall christlicher oder islamischer Werte, Rechte einen Verfall völkisch-germanischer oder volkstümlicher Werte, Liberale einen Verfall von Leistungswerten und… Linke wahlweise einen Verfall liberaler Werte und wahlweise einen Verfall der Gemeinsinn-Werte.
Je nach Couleur wird gegen einen Werte-Feind polemisiert und versucht, die eigenen „Werte“ durch und nicht gegen den gesellschaftlichen Machtapparat in Staat und Unternehmen durchzusetzen. Der fehlende Bezug auf reale Machtverhältnisse hat den Vorteil, dass sich jede Community, jede Gruppe propagandistisch gleichzeitig sowohl als mächtiger Akteur als auch als Opfer inszenieren kann: Der „Rechte“ wähnt sich als Opfer einer „globalistischen Elite“ und gleichzeitig als Ausdruck des „Volkswillens“ und der „Linke“ wähnt sich als Opfer einer nach rechts tendierenden Volksmasse und ihrer Helfershelfer in den Institutionen – und als moralisch starke Macht der bürgerlichen Zivilgesellschaft. Mächtig muss man sein, um einen Teil des Kuchens zugeteilt zu bekommen; Opfer muss man sein, um nicht als Teil der Herrschaft zu erscheinen.
So spiegelt sich in der Ideologie der Kampf um Ressourcen wider. Von allen Seiten ist ein „Kampf um die Köpfe“ entbrannt, um die „Deutungshoheit“ gesellschaftlicher Prozesse und um die Kontrolle des staatlichen und privaten Machtapparates durch die bürgerliche „Zivilgesellschaft“.
Das bürgerlich-zivilgesellschaftliche Milieu tut sich heute lautstark dabei hervor, die persönliche Meinungsfreiheit einzuschränken, zu versuchen, öffentliche Debatten und sogar öffentliche Kulturveranstaltungen zu verhindern. Rhetorisches Hilfsmittel dabei sind die inflationär verwendete Begriff „rechtsoffen“ und „verschwörungsideologisch“ sowie „wissenschaftsfeindlich“. Ihr Ziel ist nicht mehr, die Gesellschaft zu befreien, sondern die „Massen“ auf autoritäre Art im Interesse zumindest des „modernen“ finanzkapitalistischen Teils der herrschenden Klasse zu erziehen. Was ist mit der Klasse in Zeiten von Krankheit und Krieg?
Wir begreifen dagegen die Gesellschaft nach wie vor als eine Klassengesellschaft. Der gesellschaftliche Grundkonflikt liegt in der unmittelbaren Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft in der Produktion / der Arbeit. Auch unsere allgemeinen Lebensbedingungen, die öffentliche Infrastruktur, die Versorgung bei Krankheit und Alter werden aus der Arbeit bezahlt und von Institutionen wie den Sozialversicherungen nur verwaltet. Auch diese Lebensbedingungen werden durch Arbeit bereitgestellt; nicht durch die Tätigkeit meist hochbezahlter Manager, sondern durch reale Arbeit.

Wir Menschen leisten die Arbeit, damit Essen auf dem Tisch und der Müll beseitigt ist. Wir schaffen in diesem Sinne die Gesellschaft und unterhalten daneben die Kapitalbesitzer und ein Heer von eigentlich unnützen Verwaltungsleuten.
Die Vorstellung, man könne eine Infektionskrankheit ausrotten, indem „alle“ einfach mal zuhause blieben, ignoriert die simple Tatsache, dass eine Gesellschaft ohne Arbeit innerhalb kürzester Zeit aufhört, zu existieren. Wenn nichts real produziert und verteilt wird, bleibt der Teller leer, so einfach ist das. Das heißt, das Proletariat muss weiter schuften, während die Angestellten zuhause bleiben und sich bedienen lassen. Die Illusion, man könne Staat und
Unternehmen zu einem „Generalstreik“ zwingen, der dann noch finanziell kompensiert wird, ist vielleicht gut gemeint, aber weltfremd. Angenommen, „alle“ hätten tatsächlich aufgehört zu arbeiten und der Staat hätte jedem Geld überwiesen: Was wäre dann gewesen? Geld kann man bekanntlich nicht essen. Irgendwer muss arbeiten. Gerechter wäre es gewesen, die Privilegien der gesellschaftlich unnützen Verwaltungsleute anzugreifen und sie aus ihrem
Home Office in die Pflegeheime zu schicken. Gerechter wäre es gewesen, die großzügigen Wohnungen und Häuser der Vermögenden zu beschlagnahmen und zu öffnen, statt arme Menschen in ihren Hochhauswohnungen einzusperren und ihnen Essenspakete durch den Zaun zu reichen. Ja, auch das ist erstmal illusorisch: Um so etwas auch nur ansatzweise durchzusetzen, hätten wir zusammenkommen müssen. Soziales Leben ist nicht nur eine Bedingung für die Arbeit und die Ausbeutung in der Arbeit, sondern auch für Widerstand. Ein
Konsens stellt sich wenn, dann erst in einer realen Auseinandersetzung her, das bedeutet das Wort „Bewegung“. Ein im Vorwege über ZOOM- Konferenzen hergestellter verbindlicher Konsens kann nur ein Konsens von Funktionären sein.
Was hat dagegengesprochen, den Impuls der Menschen, die gegen den Lockdown protestiert haben, aufzunehmen? Es mag sein, dass es zunächst überwiegend Menschen waren, die für „ihre“ Kinder, für „ihr“ Recht auf die Straße gegangen sind. Aber es war in keiner Weise ein Protest, der ausschließend war. Das hat sich im Herbst 2021 gezeigt: Die enorme Dynamik der Kunsthallen- Demonstrationen in Hamburg resultierte aus dem massenhaften Zulauf von Lohnabhängigen. Die gut 30.000 Menschen, die bis zum Verbot durch die rot-grüne Regierung auf der Straße waren, waren in ihrer überwiegenden Mehrheit Arbeiter, Pflegekräfte u.a., die gegen die faktische Impfpflicht, die von oben forcierte Spaltung in den Belegschaften, gegen die immer wüstere und einseitige Rhetorik in den Medien und das Quälen ihrer Kinder protestierten. Ja, auch Rechte haben versucht,
anzudocken. Wie hätten die Demoteilnehmer und -organisatoren anders damit umgehen sollen, als sie es getan haben, nämlich sich inhaltlich von allen hetzerischen Parolen zu distanzieren und die organisierten Unterwanderungsversuche ins Leere laufen zu lassen? Hätten sie mit Gewalt
gegen alle Menschen vorgehen sollen, die nicht ins eigene Weltbild passen? Stellen wir uns das einmal vor: Eine Bewegung unterstellt sich einer selbstgegründeten Polizei, einer Gesinnungspolizei, denn es ging an keiner Stelle um Straftaten. Wer kontrollierte diese Polizei? Wem gegenüber hätte sich diese Polizei zu rechtfertigen? Welches Gremium sollte befugt sein, einen allgemein geteilten Konsens festzustellen und notfalls gewaltsam durchzusetzen? Oder sollte man das einfach den Polizisten überlassen?
Welche Anziehungskraft hätten wohl solche kontrollierten Proteste? Was sind das für groteske Vorstellungen, die von einigen linken Kritikern der Kunsthallendemos entwickelt worden sind?!!

Angst als Herrschaftsinstrument
Angst hat bei der Wahrnehmung der Krankheit und der staatlichen Maßnahmen sicherlich eine Rolle gespielt: Auf der einen Seite bei manchen die Angst vor den Visionen des „Transhumanismus“ der Silicon-Valley- Milliardäre, das Gleichsetzen ihrer Weltherrschaftsvisionen mit der Wirklichkeit. Auf der anderen Seite die Angst… wovor eigentlich? Das eine war vielleicht eine individuelle Angst vor Krankheit. Daraus erklärt sich das Einfordern von Schutzmitteln, etwa Schutzmasken. Aber erklärt sich daraus, dass es vor allem junge und wohlgenährte Menschen waren, die sich freiwillig impfen ließen und die am
begeistertsten ihre FFP2- Masken spazieren geführt haben? Erklärt sich daraus das (mindestens verbale) Einprügeln auf andere Menschen? Erklärt das, warum niemand diedichtgedrängten Massen der Black Lives Matter – Proteste im Mai 2020 als „egoistisch“ diffamiert hat, aber parallel sehr wohl die „Grundrechte“- Proteste? Erklärt das, warum bspw. Migranten bei Impfverweigerung paternalistisch- wohlwollend als Objekt des eigenen Aufklärungswillens betrachtet wurden, während parallel anderen Milieus „Verschwörungsgläubigkeit“ unterstellt wurde? Wohl kaum. Die Angst als kollektiver Impuls ist immer eine soziale, es ist die Angst vor den „gefährlichen Klassen“. Sie wird von oben geschürt und eingefordert; in den Betrieben war der unausgesprochene Deal: „Ihr könnt Masken haben, aber nur, wenn ihr die Verweigerer bekämpft!“ Oder: „Du bekommst einen neuen Projektvertrag, aber nur, wenn du die Entlassung deines Kollegen hinnimmst!“
Heute hat Corona eine Pause eingelegt und es herrscht mal wieder Krieg. Auch da funktioniert das Spiel: „Wollt ihr einen Ausgleich für gestiegene Energiepreise für eure jeweilige Peer-Group haben? Gerne, aber nur, wenn ihr die (Kriegs-)Politik nicht kritisiert!“
Wie kommen wir da heraus?
„Wie gegen Krankheitsinfektionen und -keime die freie Wirkung der Sonnenstrahlen das wirksamste, reinigende und heilende Mittel ist, so ist die Revolution selbst und ihr erneuerndes Prinzip, das von ihr hervorgerufenen geistige Leben, Aktivität und Selbstverantwortung der Massen, also die breiteste politische Freiheit als ihre Form, die einzige heilende und reinigende Sonne.“ (Rosa Luxemburg, Manuskript über die russische Revolution)
Luxemburg ging es erklärtermaßen nicht um die bürgerliche Freiheit, alles sagen zu dürfen, aber nichts entscheiden zu können. Dafür zitierte sie Lenin: „Erst Sowjetrußland hat dem Proletariat und der ganzen gewaltigen werktätigen Mehrheit Rußlands eine Freiheit und Demokratie gegeben, wie sie in keiner bürgerlichen demokratischen Republik bekannt, möglich und denkbar ist; zu diesem Zweck hat es z. B. der Bourgeoisie ihre Paläste und Villen abgenommen (sonst ist die Versammlungsfreiheit eine Heuchelei), zu diesem Zweck hat es den Kapitalisten die Druckereien und das Papier abgenommen (sonst ist die
Pressefreiheit für die werktätige Mehrheit der Nation eine Lüge).“ (W.I. Lenin, Werke, Bd. 28, S. 97/98.“
Für viele Menschen mögen die Begrifflichkeiten der Revolutionäre von vor hundert Jahren befremdlich und vielleicht auch bedrohlich wirken. Die von ihnen gestellte Grundfrage, wie wir zu einer besseren und gerechteren Welt kommen, müssen wir heute beantworten!
– Es geht weniger um das individuelle Recht, dieses oder jenes sagen zu dürfen. Es geht um das Recht auf eine offene Debatte auch und gerade unter Lohnabhängigen auf der Straße und in den Betrieben; es geht gegen den Ausschluss von Menschen, weil sie an diesem oder jenem Punkt eine andere Meinung haben; schon gar nicht akzeptabel ist die Forderung an die Herrschenden, Kollegen mit abweichenden Überzeugungen zu sanktionieren!
– Es geht gegen das neoliberale Herrschaftsmodell; dass die Gleichschaltung in
Betrieben, Institutionen und Medien so gut funktioniert, beruht auf der Prekarisierung der Arbeitswelt. Eine Verbindung von sozialen Kämpfen mit politischen Fragen ist unabdingbar! Ansonsten braucht man nicht von einem „Recht auf politischen Streik“ zu schwadronieren.
– Es geht heute in der historischen Krise des Finanzkapitalismus darum, sich die
Betriebe und Institutionen anzueignen; der Trend vieler Menschen, sich
zurückzuziehen und Parallelstrukturen aufzubauen, ist verständlich, hat aber fatale Folgen und befeuert den Privatisierungstrend. Statt bspw. die Abschaffung des Öffentlichen Rundfunks zu fordern, stünde die Frage der „Vergesellschaftung“ auf der Tagesordnung. Alle Bereiche der Gesellschaft bis hin zu Gewerkschaftshäusern müssen wir uns wieder aneignen!

Diskussionspapier im Jour Fixe Gewerkschaftslinke, September 2023

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