Einen deutschen Imperialismus, gibt’s den?

Gegenrede von Klaus Dallmer zu: Slave Cubela: »So nah und doch so fern…« – Für ein realistischeres Osteuropa-Bild. In express 11/23

Slave Cubela stellt in seinem Artikel einige Thesen auf über die westliche Linke – ich darf mich also angesprochen fühlen.
Mit leichter Hand wischt Cubela durch die Geschichte, unterstellt bereits Marx ein falsches Verständnis von Russland, leugnet die bestimmende Rolle der kleinen Arbeiterklasse in der Russischen Revolution und unterstellt der Linken, dass sie den sowjetischen Wandel zu einer brutalen Industrialisierungsdiktatur vor Chruschtschows Rede 1956 nicht mitbekommen habe. Richtig ist, dass sogar Teile der kommunistischen Parteien frühzeitig erkannt haben, dass die UDSSR nur noch nach ihren eigenen Interessen handelte und das Aushängeschild „Kommunismus“ nur noch zur Täuschung benutzte, ja sogar gegen die Interessen der internationalen Arbeiterbewegung handelte (siehe Deutschland, China und Spanien). Russland war allein geblieben, weil die Arbeiterklassen der entwickelten Länder noch eine bescheidene Lebensperspektive im Kapitalismus sahen und die tausendfache Ermordung der revolutionären Minderheit tatenlos hinnahmen. Der russische Industrialisierungsterror war die Konsequenz dieser Isolation. Das Kräfteverhältnis auf der Welt kommt bei Cubela in diesem Zusammenhang aber nicht vor, nur der „östliche Marxismus“. Dass der Großteil der Menschen in den ehemaligen Sowjetrepubliken, auch in den Ländern des ehemaligen Warschauer Paktes, nach diesen Erfahrungen mit dem aufgezwungenen Sozialismus nicht gerade mit der Linken liebäugelt, ist uns nicht gänzlich neu.
Der Marxismus war übrigens nicht „östlich“, sondern ein Westimport. Sicherlich hat Cubela aber recht, dass die Ausrichtung an „östlichen Marxisten“ (er nennt Lenin, Trotzki, Kollontai) unter westlichen Bedingungen nicht fruchtbar werden kann – das wissen wir aber bereits seit der Auseinandersetzung Rosa Luxemburgs mit Lenin und der russischen Revolution.
In Osteuropa, so teilt er uns mit, sind die Verhältnisse gänzlich anders: Schlechte Bedingungen hätten die wirtschaftliche Entwicklung begrenzt mit der Folge, dass sich eine starke gesellschaftliche Einflussnahme auf den Staat nicht habe entwickeln können. Die unteren Klassen wollten deshalb mit dem Staat nichts zu tun haben, wichen auf einen „riesigen Kontinent widerständiger Infrapolitik“ (!?) aus, und diktatorische Herrschaftsformen hätten leichtes Spiel. Hier fehlt eine Betrachtung von Klassen- und Entwicklungsdynamik, die Einordnung verspäteter Kapitalakkumulation und der Versuche ihrer Überwindung in geschichtliche Zusammenhänge. Das Bild bleibt statisch. Es soll übrigens auch in westlichen Ländern Perioden gegeben haben, wo die „Unterklassen“ dem Staat lieber nicht ins Gehege kommen wollten.
So bekommt man den Eindruck, dass Cubela die Andersartigkeit Osteuropas nur deshalb ausbreitet, um uns der Sünde zu überführen, Russlands „Faschismus“ nicht erkennen zu wollen. Faschismus ist nach vorherrschender marxistischer Auffassung aber die Verschmelzung einer reaktionären Massenbewegung mit dem bürgerlichen Staatsapparat zu einer Diktatur der Exekutive – einer Diktatur, die sich politisch auch die ausbeutende Klasse unterwirft, bei gleichzeitiger Fortexistenz von deren wirtschaftlicher Herrschaft (siehe Bonapartismus). Die Entwicklung hin zu solcher Herrschaftsform dürfte in der Ukraine weiter fortgeschritten sein als in Russland. Jedwede staatliche Diktatur, die Gewalt ausübt, als Faschismus zu bezeichnen, wie Cubela das tut, dient nicht dem Durchschauen von Verhältnissen. Aber will er das, wenn er nahelegt, dass Russland schlimmer ist als die Ukraine? Meint er hier, man kann sich aussuchen, auf welche Seite man sich schlägt? Linke sollten doch dort an den Verhältnissen rütteln, wo sie sind – oder möchte Cubela, dass wir uns dem Waffengang unserer Kapital-Demokraten gegen Russland als dem schlimmeren Übeltäter anschließen? Russland war ja schon immer der Gendarm Europas (so wurde bereits der Erste Weltkrieg gerechtfertigt) und ist noch immer der „reaktionäre Gendarm der Welt“, so Cubela. Gibt es da nicht noch einen?
Cubela blendet die geopolitischen Verhältnisse aus, um behaupten zu können, die westliche Linke halte an ihrer „Liebe“ zum „östlichen Marxismus“ fest, von dem sie hoffe, dass er in Putin weiterlebt und den „ewigen Feind Kapital irgendwie schädigt“. Wegen dieser unserer „emotionalen Irrlichterei“ wird uns also unterstellt, für Putin Partei zu ergreifen! Wer soll es denn bitte konkret sein, der nicht mitbekommen hat, dass in Russland seit 30 Jahren der Kapitalismus herrscht? Es sind nicht wir, die hier irrlichtern. Eine ernsthafte Betrachtung käme kaum darum herum, bei einer Analyse des Aufeinanderprallens der beiden imperialistischen Blöcke festzustellen, welcher sich beim gegenwärtigen Kräfteverhältnis in der Offensive befindet und welcher in der Defensive. In jedem Fall aber steht die Aufgabe für Linke, den Imperialismus des eigenen Lagers zu stürzen – die Herrschaft des „ewigen Feindes Kapital“ und die ihm innewohnende Tendenz zu Expansion und Krieg zu beseitigen sowie internationalistisch auf der anderen Seite die gleichen Bemühungen zu unterstützen. Fast hört es sich an, als wolle Cubela das nicht mehr. Aufgabe von Linken wäre es also beim Ukrainekrieg wohl, den inneren ökonomischen Zwang des deutschen und des EU-Kapitals zu weiterer Ausdehnung ihrer Profitfreiheit nach Osten darzulegen und ihren Anteil an der Kriegsschuld – um den Widerstand dagegen zu stärken. Davon schweigt Cubela. Ob wir dabei vor der bürgerlich verdrehten öffentlichen Meinung eine gute, schlechte oder „peinliche Figur“ abgeben, mag Cubelas Maßstab sein. Unserer ist es nicht.
Sozialistische Politik beschreibt Rosa Luxemburg als die Verbindung der Teilbewegungen mit der Machteroberung durch die Arbeiterklasse. Diese „Träumereien“ zu konkretisieren sieht Cubela offensichtlich nicht als seine Aufgabe an. Die Krisen des Kapitalismus können die Möglichkeit von Sozialismus hervorbringen, und es ist die Arbeiterklasse (wie „modern“ auch immer man sie zu definieren lustig ist), die dann im Ringen um ihre Existenz und im Rahmen der vorliegenden Möglichkeiten den Weg zu seiner Verwirklichung praktisch suchen muss – falls Atomwaffen, Klimakatastrophe und Künstliche Intelligenz der Menschheit solche Möglichkeiten überhaupt noch lassen. Dabei werden ihr Vorbildprediger, Anpreiser von Idealvorstellungen und desillusionierte Liberale kaum nützlich sein.

Klaus Dallmer, November 2023

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