Fast schon zu spät…

Fast schon zu spät…
Warum der Kampf gegen rechts in den Reihen des DGB jetzt beginnen muss – von Toni Richter*
In: express 12/2023
Stell dir vor, der Faschismus kommt wieder und die Gewerkschaften helfen mit. Das klingt bitter und polemisch, mehr noch: falsch. Aber festzuhalten ist zunächst, dass rechtsextreme Kräfte nicht weit davon entfernt sind, wieder staatliche Macht in Deutschland zu erobern bzw. dies kommunal und regional sogar schon haben, von gesellschaftlicher Hegemonie in weiten Teilen ganz zu schweigen. Und es gibt genug Indizien, die – vorsichtig gesprochen – darauf hindeuten, dass die deutschen Gewerkschaften gegenwärtig politisch etwas ganz anderes sind als das oftmals beschworene Bollwerk gegen rechts.
Die, wenn man so will, quantitativen Indizien sind bekannt. Dennoch lohnt es sich, diese mit Blick auf die letzten Wahlen in Erinnerung zu rufen. Zur Realität dieser Wahlen gehört nämlich im ehemals »roten Hessen« der Umstand, dass die AfD mit 26 Prozent die meistgewählte Partei unter männlichen Gewerkschaftern ist. Und genderunabhängig liegt sie nur knapp entfernt von CDU und SPD mit 21 Prozent Gewerkschafter:innen-Stimmen auf Rang Drei. In Bayern wiederum ist die AfD mit 18 Prozent der Stimmen zwar deutlich hinter der CSU die Nummer Zwei bei den Gewerkschafter:innen. Gleichzeitig jedoch wählen im deutschen Südosten sage und schreibe 72 Prozent der DGB-Mitglieder Parteien, die wie die CSU entweder stramm rechtskonservativ, wie die Freien Wähler und AfD partiell bzw. ganz rechts extrem sind oder die wie die FDP eine offene Flanke nach rechts zeigen (Stichwort: Thürin gen; zu den Wahlergebnissen siehe express 10/2023, S. 1f.).
Neben diesen quantitativen Aspekten gibt es jedoch eine ganze Reihe qualitativer Entwicklungen. Dabei muss ich vorweg schicken: Die folgende Aufzählung bleibt bewusst vage, denn hier sollen keine gewerkschaftlichen Zusammenhänge bloßgestellt und damit demotiviert werden, von denen ich weiß, dass sie sich im Alltag mit aller Kraft gegen das Erstarken der extremen Rechten stemmen. Doch trotz dieses redlichen Engagements sieht die Realität innerhalb der DGB-Gewerkschaften aktuell wie folgt aus, all diese Begebenheiten habe ich in den letzten Monaten erlebt oder sie wurden mir in dieser Zeit zugetragen:
Es ist keine Seltenheit mehr, wenn man auf gewerkschaftlichen Veranstaltungen nicht nur in
Raucherecken Sätze hört wie »Die AfD hat doch gute Ideen«. Es kommt immer wieder vor, dass Gewerkschafter:innen die Debatte über die AfD verweigern, indem sie darauf beharren, »dass politische Themen in der Gewerkschaft nichts verloren haben.«
• Am Ende einer Vertrauensleute-Schulung, in der der Gegensatz von Kapital und Arbeit Thema ist, reagiert ein Vertrauensmann, indem er vor allen anderen diese Schulung als »Rotbestrahlung« kritisiert und dafür kaum Widerspruch erntet.
• Bei einem umkämpften Streik kommt ein unterstützender Gewerkschaftssekretär nach vielen Gesprächen und Beobachtungen zur Überzeugung, dass knapp zwei Drittel der Streikenden bei den nächsten Wahlen in jedem Fall AfD wählen werden.
• Auf vielen Internetseiten von DGB-Gliederungen kommt es immer wieder durch aktive Gewerkschaftsmitglieder zu wütenden Kommentaren gegen »Schmarotzer«, »Flüchtlinge«, gesellschaftliche »Maulkörbe« des Sagbaren usw.
• Das wiederkehrende Eintreten von Betriebsratsgremien für ihre Gewerkschaft hält die gleichen Gremien nicht davon ab, überzeugt zu AfD-Veranstaltungen zu gehen.
• Antisemitische Sätze, wie etwa, dass der jüdische Besitzer eines Betriebs die typischen
Eigenschaften seiner Rasse aufweise, können einem bei gewerkschaftlichen Toraktionen von Seiten der Aktiven begegnen.
• Eine gewerkschaftliche Vertrauensfrau, die in einem überregionalen Großunternehmen an einem Standort mit mehreren tausend Mitarbeiter:innen und Gewerkschaftsmitgliedern arbeitet, geht davon aus, dass in ihrer Abteilung knapp 50 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder AfD wählen, und sie glaubt, dass dies auch für den ganzen Standort gilt.
• Bei einer überregionalen Gewerkschaftsschulung mit dreistelliger Beteiligungsgröße wird einem Referenten von einer Betriebsrätin nach einem Vorfall vertraulich gesagt, dass er sich nicht wundern solle, da »die meisten der hier Anwesenden die AfD gut finden und wählen werden.«
• Ein langjähriger Betriebsrat und Gewerkschafter trat 2023 für die AfD als Bürgermeisterkandidat an und argumentierte dabei lauthals in der regionalen Presse, dass er das alles für vereinbar halte – ein Widerspruch von Seiten des DGB erfolgte meines Wissens nach erst spät.
Depolitisierung
Diese Liste wäre leicht zu ergänzen. Aber auch so sollte deutlich geworden sein: Obwohl seit Jahrzehnten bekannt ist, dass in den DGB-Gewerkschaften ein signifikanter Teil der Mitglieder nach rechts oder gar extrem rechts tendiert, so verschärft sich dieses Problem gegenwärtig beträchtlich, weil immer mehr aktive und engagierte DGB-Gewerkschafter:innen sich politisch nicht mehr nach rechts abgrenzen. Oder anders: Der rechte Gegner des DGB ist nicht da draußen irgendwo z.B. beim »Zentrum Automobil« bzw. »Zentrum Gesundheit und Soziales« oder bei den lediglich zahlenden Mitgliedern. Er sitzt inzwischen immer häufiger in den diversen Treffen und Tagungen des DGB und gönnt sich da mit allen anderen Kolleg:innen gemütlich einen Kaffee, lacht und diskutiert mit und lässt es sich schmecken – um tief im Inneren auf Wahlerfolge der AfD zu hoffen.
Einerseits kann das nun nicht überraschen, da gesellschaftliche Entwicklungen kaum spurlos an Institutionen wie den Gewerkschaften vorbeigehen können – und dies nicht zuletzt deshalb, weil sie als parteipolitisch neutrale Branchengewerkschaften seit jeher eine politisch heterogene Mitgliedschaft vereinen müssen und es dabei gewohnt sind, politische Toleranz zu üben. Andererseits jedoch haben diese Gewerkschaften einen anderen Anspruch. Sie verstehen sich als progressiver Teil der Gesellschaft, sie wollen mehr sein als nur ein Abbild der Verhältnisse. DGB-Gewerkschaften reklamieren laut, dass sie die sozial-ökologische Transformation mitgestalten wollen und vor allem können. DGB-Gewerkschaften sind stolz darauf, die größten Frauen- und Migrant:innen-Organisationen in Deutschland zu sein. Und DGB-Gewerkschaften positionieren sich explizit als antifaschistisch, etwa als der ehemalige Vorsitzende der IG Metall, Jörg Hofmann, 2015 die betriebspolitische Losung ausgab »Wer hetzt, der fliegt.« (im Kontext der 2015 tobenden Migrationsdebatte, siehe dazu den Beitrag von Neva Löw in dieser Ausgabe, Anm. d. Red.) Warum schaffen es die Gewerkschaften trotz dieser Ansprüche nicht, sich tatsächlich gegen die gedankliche Kontaminierung von rechts zu wehren? Wie kommt es, dass immer mehr Gewerkschafter:innen mal mehr, mal weniger offen für rechtsextreme Ziele eintreten?
Eine einfache Antwort auf diese wichtigen Fragen verbietet sich. Aber ein Phänomen ist hervorhebenswert: Konnten die DGB-Gewerkschaften in der Vergangenheit noch kritische Intellektuelle in ihren Reihen vorweisen; waren sie immer wieder bereit, politische Kämpfe massiv zu unterstützen (z.B. gegen die Wiederbewaffnung 1949 – 1956, die Notstandsgesetze 1968, den NATO-Doppelbeschluss 1979); hielten sie z.B. in ihren Satzungen an der Vorstellung einer neuen und besseren, weil sozialistischeren Welt fest; so sind die DGB-Gewerkschaften inzwischen politisch deutlich stiller geworden. Wie mutig, aber auch wie hellsichtig die DGB-Gewerkschaften vor ihrem langsamen Verstummen waren, sei dabei nur an zwei Beispielen in Erinnerung gerufen. So fragte Otto Brenner bereits 1971: »Hat es Sinn, die unablässige Vermehrung des Reichtums damit zu bezahlen, dass wir im Wohlstandsmüll versinken und in einer verseuchten Welt leben müssen?« Und seine Rede beim Zukunftskongress der IG Metall 1988 begann Franz Steinkühler mit einer hochaktuellen Beschreibung, indem er sagte: »Am Ende des 20. Jahrhunderts sieht die industrielle Zivilisation einer ungewissen und gefahrvollen Zukunft entgegen. Das Fortschrittsmodell immerwährend steigender Wohlfahrtsproduktion ist an ökologische Grenzen gestoßen. Massive Umweltzerstörungen bedrohen das Leben kommender Generationen. Zugleich vergrößern sich die Ungleichgewichte der nationalen Lebenschancen. Bei gleichzeitiger Überschussproduktion in zahlreichen Industrieländern verschärft sich die Verelendung in der Dritten Welt.«
Und heute? Zwar suchen die Gewerkschaften den Schulterschluss mit sozialen Bewegungen wie der feministischen oder der Klimabewegung, die inhaltliche Setzung eigener, politisch klarer Akzente, wie sie etwa für Otto Brenner oder Franz Steinkühler auch im ökologischen Sinne noch selbstverständlich waren, ist aber selbst unter Berücksichtigung dieser Bündnisse nur sehr zaghaft. Keine gewerkschaftliche Führungskraft in Deutschland hätte so etwa gegenwärtig das Format, Positionen wie Otto Brenners oder Franz Steinkühlers in den Raum zu stellen – und sei es nur als Frage. Stattdessen wird unablässig das Bild einer ökolo gisch wirksamen grünen Transformation bemüht, das nicht nur mit Blick auf die Argumente der Degrowth-Forschung äußerst diskussionswürdig ist. Zudem scheint den so auftretenden Gewerkschafter:innen gar nicht klar zu sein, wie unglaubwürdig und heikel ihr Transformationsnarrativ ist. Denn wann haben Gewerkschaften in Deutschland eine tiefe gesellschaftliche Transformation jemals positiv beeinflussen können? Beim Werftensterben in Norddeutschland? Beim Strukturwandel im Ruhrgebiet? Bei den blühenden Landschaften in Ostdeutschland? Aber statt diese und andere kritische Fragen als Denkanstöße aufzunehmen, überall nur platter Optimismus und sedierende Parolen.
Bemerkenswert ist bei alledem, dass diese Entpolitisierung den DGB-Gewerkschaften nicht verborgen geblieben ist. Auch wenn dies niemand öffentlich zuzugeben bereit wäre: Intern ist seit Jahren die Konzentration der eigenen Arbeit auf das tarifliche Kerngeschäft das Maß aller Dinge, so dass Tarifrunden und -bewegungen immer mehr den einzigen Bezugspunkt der Gewerkschaftswelt darstellen. Das hat ohne Zweifel seine Berechtigung: In einer betrieblichen Welt, in der in immer kürzeren Abständen Veränderungen stattfinden, in der neue Gruppen von Mitarbeiter:innen gewerkschaftlich erschlossen werden müssen, Union-Busting professionalisiert wird und zugleich Vertrauensleute-Strukturen erodieren usw., wird Gewerkschaftsarbeit immer schwieriger. Insofern kann es nicht wundern, dass die politische Erschöpfung der DGB-Gewerkschaften mit einer ganz konkreten Erschöpfung vieler Gewerkschafter:innen einhergeht, so dass hohe Krankenstände, Schlaganfälle, Herzinfarkte und sogar plötzliche Todesfälle in der Welt der DGB-Gewerkschaften normal geworden sind und man als einzelne Gewerkschafter:in froh ist, die tarifpolitischen Basics der eigenen Arbeit zu bewältigen.
Allerdings ist diese allumfassende Tarifvertrags-Orientierung nicht nur erstaunlich erfolglos, da die Tarifbindung bundesweit aktuell beim neuen Tiefstwert von 51 Prozent angekommen ist. Dadurch, dass das Tarifgeschäft innerhalb des DGB weitgehend technokratisch strukturiert ist, so dass Tarifforderungen, -bewegungen und -abschlüsse von gewerkschaftlichen Tarifexpert:innen vorgedacht und finalisiert werden, wird zum einen das Politisierungspotential von gewerkschaftlicher Tarifarbeit null ausgeschöpft, sieht man einmal von der großen Ausnahme der Krankenhaus-Kampagne von verdi ab. Und zum anderen werden gerade die engagiertesten Gewerkschafter:innen im Betrieb durch diese Konzentration auf das Tarifgeschäft »top-down« auch regelrecht konditioniert. Je häufiger DGB-Aktive und -Funktionär:innen nämlich darauf getrimmt werden, bei ihren Zusammenkünften nur auf Wirtschaftsdaten, tarifliche Rechte und Möglichkeiten, Lohnberechnungen etc. zu schauen, umso mehr verinnerlichen sie die Botschaft, dass Gesellschaft und Politik im Rahmen der DGB-Gewerkschaften eher zweitrangig sind, und dass Gewerkschaftsarbeit etwas »rein Ökonomisches« wäre Zunehmender Kontrast.
Man könnte jedoch einwenden, dass die Depolitisierung der DGB-Gewerkschaften auch ihr Gutes hat. Denn wenn diese Depolitisierung als historischer Prozess die gewerkschaftliche Kehrseite des politischen »There is no alternative« (Margret Thatcher) des Neoliberalismus darstellt, das seit den 1970er Jahren allgegenwärtig geworden ist, so sind die DGB-Gewerkschaften als Arbeitnehmervertreter:innen des Exportweltmeisters Deutschland mit ihrer Konzentration aufs Kerngeschäft doch vergleichsweise gut durch die letzten Jahrzehnte gekommen. Allein: selbst wenn dieses Argument nicht falsch ist – man denke nur an das traurige Schicksal der britischen und US-amerikanischen Gewerkschaften – , in der aktuellen Situation ist diese Depolitisierung kaum mehr ertragbar, denn der Kontrast zwischen einer ökologisch und sozial kollabierenden Welt einerseits und den tarif-technokratischen DGB-Gewerkschaften andererseits wird immer krasser. Beispiel eins: Eine solche Entwicklung wie die gegenwärtige wirft bei vielen Menschen Fragen auf. Doch statt diese Fragen mit ihren Mitgliedern zu diskutieren, verweisen die DGB-Gewerkschaften auf ihre belanglosen Parolen und Papiere, um vor Ort häufig einen Bogen um diese Diskussionen zu machen. So taucht ein zivilgesellschaftlicher Akteur wie die DGB-Gewerkschaften, der gesellschaftlich zudem über ein vergleichsweise hohes Ansehen verfügt, genau dann unter, wenn er dringend präsent sein müsste.
Beispiel zwei: Gerade jetzt, wo es darum ginge, ausgehend von der sozialökologischen Krise an die umrissenen Denk-Horizonte der DGB-Gewerkschaften aus der Vergangenheit kritisch anzuknüpfen, werden diese geflissentlich ignoriert. Entsprechend bleibt das Erbe der gewerkschaftlichen Debatten und Konzepte des 20. Jahrhunderts in der »offiziellen« Gewerkschaftspolitik heute völlig unberücksichtigt, obgleich z.B. eine Diskussion über die Aktualität von
Wirtschaftsdemokratie alles andere als gestrig wäre. Beispiel drei: als Kinder der deutschen Sozialpartnerschaft scheinen die DGB-Gewerkschaften nicht erwachsen werden zu wollen und halten an dieser Partnerschaft fest, obwohl sich doch die gesellschaftlichen Verhältnisse des rheinischen Kapitalismus längst verändert haben. Man hofft also zumeist auf Kanzlerschaften und Regierungsbeteiligungen der SPD, obgleich diese Partei inzwischen bundesweit bei ca. 15 Prozent Stimmanteil unter den Wählenden angelangt ist. Man hofft auf Wunderwerke der Technik, obgleich die mächtigen Akteure dieser neuen Wunderwerke wie Amazon oder Tesla auf Gewerkschaften schlicht scheißen. Man lechzt anhaltend nach Dialogen mit den gesellschaftlichen Eliten, obwohl doch die Voraussetzung für solche Gespräche jenes gesellschaftliche Kräftegleichgewicht wäre, das der Neoliberalismus auch in der deutschen »Abstiegsgesellschaft« (Oliver Nachtwey) zerstört hat.
Dazu passt: Genau in einer Zeit, in der der vielbeschworene Mittelweg eigentlich nicht mehr gangbar ist, weil dieser uns über Jahrzehnte hinweg in die aktuelle sozialökologische Bredouille hineinbugsiert hat, werden viele DGB-Gewerkschafter:innen – auch die neue Generation, bei der viele oft aus linken Bewegungskreisen kommen – auf erschütternd naive Weise offen konformistisch. Die Übertragung betriebswirtschaftlicher Logiken aus der so verachteten wie bewunderten Welt des Managements scheint in den Gewerkschaften seit einigen Jahren immer mehr en vogue, weil das irgendwie »pragmatisch«, »realistisch« oder »professionell« daherkommt: Wer hat wann wie viele Mitglieder gemacht? Haben wir auch keinen »Quick-Win« übersehen? Wie können wir auch in schwierigen Zeiten unser Vermögen sichern? Ist diese Öffentlichkeitskampagne »fancy« genug? Wie fallen die Umfragen aus?
Diese und ähnliche Fragen treiben die DGB-Gewerkschaftsarbeit im 21. Jahrhundert an. Gefahr!
Doch damit nicht genug. Wenn es also tatsächlich so sein sollte, dass die Depolitisierung der Gewerkschaftsarbeit diskursive Leerräume eröffnet, in die die Hass-Parolen der politischen Rechten zunehmend Einzug halten können, so geht damit noch ein Risiko einher: Da nämlich durch die politische Kraftlosigkeit der DGB-Gewerkschaften rechte oder rechtsextreme Positionierungen kaum echten Widerspruch, Kritik oder gar Sanktionen innerhalb der alltäglichen
Gewerkschaftsarbeit zu fürchten haben, drohen DGB-Veranstaltungen zunehmend selber zu sozialen Knotenpunkten zu werden, in denen rechtes Gedankengut Verbreitung findet.
Dabei geht es gar nicht um den offiziellen Teil dieser Veranstaltungen. Einzelne DGB-Gliederungen können hier über die AfD und den erstarkenden Rechtsextremismus reden.
Aber das ist nicht nur ein Tropfen auf einen immer heißeren Stein. Jeder Anwesende weiß zudem vorher schon genau, was er in diesem offiziellen Teil sagen kann und darf. Spannend wird es vielmehr in den informellen Diskussionen solcher Gewerkschaftertreffen, in den Raucherecken oder beim gemeinsamen Umtrunk. Denn hier sind die Hauptamtlichen nicht mehr allgegenwärtig. Hier kann sich rechtes Gedankengut richtiggehend überbetrieblich entfalten und vertiefen. Denn nun können die entsprechenden Gewerkschafter:innen ihre Sympathie für Rechts langsam zeigen, indem sie beim Bier erst Vertrauen aufbauen, mit ein paar Sprüchen die anderen Kolleg:innenen testen, denen dann »gute« AfD-Videos oder Schlimmeres zeigen und womöglich irgendwann offen sagen, das nur noch die AfD wählbar ist.
So könnten die DGB-Gewerkschaften zunehmend rechte Vorfeldorganisationen wider Willen werden, ähnlich wie viele Jugendzentren in Ost- und auch Westdeutschland in den 1990er Jahren. Damals dachten nicht wenige Sozialarbeiter:innen und ihre politischen Geldgeber, dass eine »akzeptierende Jugendarbeit«, in der man rechtsextreme Gesinnungen zunächst tolerierte, einen ersten Zugang zu diesen Jugendlichen schaffen würde. Sozialarbeiter:innen bemühten sich, mit Rechtsextremen offiziell zu diskutieren, um diese nach und nach zu demokratisieren. Doch die inoffiziellen Zwischenräume waren letztlich stärker als die offizielle Agenda und der Rechtsextremismus gewann immens an Land (vgl. dazu differenzierend Maria Diedrich sowie Caro Keller in Widersprüche 167/März 2023).
Bei den DGB-Gewerkschaften kommt sogar noch eine Gefahrendimension hinzu: Je weniger man auf die reflexive Festigung der eigenen Funktionär:innen und Aktiven schaut, je weniger man mit diesen alltäglich politisch diskutiert und gemeinsame demokratische Nenner findet, je beliebiger und pseudo-toleranter der Gewerkschaftsalltag also im Allgemeinen wird, umso mehr können die DGB-Gewerkschaften zum Ausbildungszentrum für rechte Gewerkschafter:innen werden. Denn darauf weisen anti-faschistische Gewerkschafter:innen im Gespräch explizit hin: Sie sind erstaunt, wie reibungslos bisweilen der Wechsel vom DGB zu rechten Organisationen verläuft, und sie sind besorgt, ob die Werbung, die diese Überläufer:innen für sich machen, indem sie sich im rechten Kontext als erfahrene Betriebsräte und Gewerkschafter:innen darstellen, nicht nach und nach verfangen wird.

Ausweg?
Einzuwenden wäre: Kämpfen die DGB-Gewerkschaften nicht schon insofern kraftvoll gegen rechts, als sie in den letzten Jahren dem Prinzip Beteiligung eine zunehmende Bedeutung in ihrer Arbeit zubilligen? Sorgen z.B. Organizing-Prozesse nicht dafür, dass Menschen durch kämpferische Erfahrungen der Selbstwirksamkeit quasi demokratische Schulen durchlaufen, die sie gegen rechts oder gar rechtsextreme Einflüsterungen immunisieren? Und müsste man deshalb nicht verstärkter auf Organizing, Beteiligung und Mitbestimmung setzen?
Folgte man der Leipziger Autoritarismus-Studie, dann sind Menschen, »die im Betrieb mitbestimmen können und auch in der größeren gesellschaftlichen Sphäre aktiv sind, […] weniger autoritär« (neues deutschland, 25.10.2023). Aber auch hier ist Skepsis angebracht. In seiner Studie über die Geschichte des Community Organizing in den USA charakterisiert Robert Maruschke (Münster 2014) nämlich den Organizing-Ansatz von Saul Alinsky wie folgt:
»Umfangreiche gesellschaftspolitische Ziele oder Vorstellungen stünden [laut Alinsky/S.C.] der Effektivität der Organisation im Weg. Pragmatismus und Anti-Ideologie waren stattdessen zentrale Stichworte. Alinsky war der Meinung, progressive Ideale würden sich ausgehend von den versammelten individuellen Interessen innerhalb der Organisation von selbst herausbilden« (Maruschke 2014: S. 30). Die besondere Pointe, die dieses depolitisierte Organizing zeitigte, skizziert er wie folgt: »Wenn von Community-Organisationen ein emanzipatorischer Wandel ausgehen soll, dann braucht es mehr als direkte Aktionen. Die Bewohner:innen der Stadtteile, Aktivist:innen und Organizer:innen müssen sich aktiv mit existierenden Widersprüchen auseinandersetzen, um im politischen Alltag nicht in rassistische oder konservative Muster zu verfallen. Genau dies [der Verfall in diese Muster/S.C.] ist jedoch bei vielen liberalen Community-Organisationen in den 1950er und 1960er Jahren passiert. Sie waren oft nicht nur ›undemokratisch und ineffektiv bei der Bearbeitung ökonomischer Probleme, sie konnten [auch] reaktionäre und rassistische Formen annehmen‹« (ebd., S. 37f.).
Das historische Beispiel vor Augen werden die Parallelen zum aktuellen gewerkschaftlichen Organizing in Deutschland deutlich. Zuallererst ist es kein Zufall, dass gerade Alinskys depolitisierter und dezidiert anti-ideologischer Organizing-Ansatz für die zunehmend depoliti-sierten und dezidiert anti-ideologischen DGB-Gewerkschaften so attraktiv wurde, dass z.B. seine Schriften von den DGB-Gewerkschaften auf Deutsch eine Neuauflage erfuhren. Es ist auch kein Zufall, dass diese Tradition des liberalen Organizings im Sinne Maruschkes in den deutschen Gewerkschaften bis zum heutigen Tag anhält, denn warum sollten Gewerkschaften, die sich nach wie vor auf ihr Kerngeschäft rund um den Tarifvertrag konzentrieren, aus Organizing mehr machen wollen als eine Mitgliedergewinnungs-Technik, in der Demokratie-Konflikt- und Selbstwirksamkeitserfahrungen eher Mittel zum Zweck sind? Es ist weiterhin kein Zufall, dass diese Gewerkschaften dem sog. Deep Organizing von Jane McAlevey neugierig gegenübertraten. Auch McAlevey vermeidet, ähnlich wie Alinsky, in all ihren Schriften und Interviews handfeste politische Positionierungen und wartet zugleich nur mit rudimentären Momenten einer kritischen Gegenwartsanalyse auf, so dass sie trotz ihrer Kritik an Alinsky letztlich nur eine etwas radikalere Variante des liberalen Organizings darstellt (siehe die Kritik in express 12/2022, S. 12). Und schließlich ist vor allem das gegenwärtige Gesamtergebnis kein Zufall – also die Tatsache, dass das anhaltend liberale Organizing der DGB-Gewerkschaften einerseits seit Beginn der 2010er Jahre praktiziert wird und durchaus Mitgliedererfolge beschert, dass aber andererseits das gleiche Organizing im selben Zeitraum keine Politisierung der Gewerkschaftsarbeit zur Folge hatte, so dass nicht wenige DGB-Mitglieder und Aktive eben nach rechts rücken.
Es ist fast zu spät…
Stellen wir uns also zum Abschluss noch einmal vor, dass ein neu gewandeter Faschismus wieder-kommt und die DGB-Gewerkschaften mithelfen – wird diese Vorstellung vor unseren Augen Realität? Weil die Gewerkschaften zwar gegen rechts kämpfen wollen, aber es nicht können, so dass sie das politische Gegenteil von dem ernten, was sie zu säen glauben? Gerade weil sie politisch stiller geworden sind und sich seit Jahrzehnten auf ihr – dazu noch neoliberal gewendetes – Kerngeschäft konzentrieren? Eben weil diese einseitige Konzentration auf Tarifprozesse deren politische Potentiale technokratisch kaputt macht und somit die Gewerkschaften zusätzlich politisch-intellektuell verarmen lässt? Und weil diese Verarmung in einer bedrohlichen Zeit, in der es auf Kritik und Mut abseits des Mittelwegs besonders ankommt, extrem problematisch wird? Weil viele Gewerkschafter:innen zu erschöpft sind, um abseits ihrer Basic-Arbeit der entpolitisierten Mitgliedermach-Gewerkschaft den Kampf anzusagen? Weil ein unpolitisches, liberales Organizing all diese Entwicklungen eher abrundet als auf- bricht?
Immerhin scheinen die Gewerkschaften die Dramatik der Lage erkannt zu haben. Dafür spricht vor allem, dass mit der DGB-Vorsitzenden Yasmin Fahimi und der neuen IG Metall-Vorsitzenden Christiane Benner zwei führende deutsche Gewerkschafterinnen öffentlich dem Kampf gegen die AfD eine besondere Bedeutung zugesprochen haben. Und folgt man der von der Otto-Brenner-Stiftung mitfinanzierten Leipziger Autoritarismus-Studie, dann muss man gar nicht gedanklich in die Ferne schweifen, sondern kann politische Eckpunkte eines wirksamen gewerkschaftlichen Kampfes gegen extrem Rechts einfach umreißen. Erstens: Wenn die 2022er Studie hervorhebt, dass »abhängig Beschäftigte in der Gesellschaft stark ausgeprägte Interessengegensätze zwischen gesellschaftlichem Oben und Unten wahrnehmen« und diese Beschäftigten dabei einen »explizit« als »Klassenkonflikt benannten Gegensatz zwischen Kapitalisten und Arbeiterklasse« (Decker et al. 2022, S. 294f.) erkennen, dann liegt es nahe, dass Gewerkschaften politisch an diese Wahrnehmung anknüpfen können. Zweitens: wenn diese Wahrnehmung zugespitzter gesellschaftlicher Konflikte zwischen »denen da oben« und »denen da unten« laut der 2022er Studie auf fragmentierte, inkohärente Weltbilder bei vielen Arbeiter:innen trifft (ebd., S. 297), so sollten gerade Gewerkschaften nicht glauben, man könne den Menschen diese Wahrnehmung sozialpartnerschaftlich wegerklären.
Denn der Aufstieg der AfD zeigt doch zweierlei deutlich: Diese Oben-Unten-Wahrnehmung von Arbeiter:innen ist derart stark, dass sie von jenen politischen Kräften angezogen werden, die an diese Wahrnehmung anknüpfen – und zwar so sehr, dass Arbeiter:innen dabei sogar anfällig werden für rechtsextreme Weltbilder. Statt also irgendwas wegzuerklären, bleibt nur ein Weg: es gilt, sich auch im DGB in Erinnerung zu rufen, dass Solidarität und da mit Gewerkschaften nur deshalb von Belang sind, weil »die da oben« »die da unten« unablässig und gerne unterdrücken! Drittens: Eine damit implizierte Erneuerung gewerkschaftlicher Klassen- und Solidaritätspolitiken muss allerdings weit mehr sein als der politische Verweis auf die deutsche Mitbestimmung. Denn in der Studie wird zudem offensichtlich, dass Betriebsräte und Gewerkschaften für die Beschäftigten zum Teil des Establishments zählen (also zu denen »da oben« gehören), wenn sie nur im technokratischen Co-Management verharren, was – so die Autor:innen – wiederum den Aufschwung rechtsextremer Akteure im Betrieb zusätzlich befördert (Brähler/Decker 2020: S. 129). Und viertens: in der Studie folgern die Leipziger Autor:innen nicht nur, dass auf der betrieblichen Ebene vor allem kämpferische Beteiligungsprozesse gegen die Zumutungen des Kapitals politisch wirksam gegen rechts immunisieren. Sie fügen vor allem hinzu, dass »überzeugende verteilungspolitische Konzepte« zu entwickeln sind, die dafür sorgen, dass bei denen »da unten« sinnfällig erfahrbare Wohlstandsgewinne ankommen.
Hoffen wir also, dass die DGB-Gewerkschaften diese von ihnen finanzierten Hinweise im Kampf gegen rechts aufgreifen und zumindest ihre eigenen Reihen demokratisch festigen können. Denn auch das ist klar: es ist fast schon zu spät. Wenn die AfD bei den Landtags-Wahlen im Herbst 2024 absolute Mehrheiten gewinnen sollte, dann stehen wir vor einer Katastrophe für das gesellschaftliche und politische Klima auch in den Gewerkschaften. Glaubt man Sebastian Friedrich, einem der besten Kenner der AfD, dann hat sie gute Chancen (Jacobin, 25.10.2023).

*Toni Richter ist seit mehr als 25 Jahren engagiertes Gewerkschaftsmitglied.
Literatur:
Brähler, Elmar und Decker, Oliver (Hg.): Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments – neue
Radikalität. Leipziger Autoritarismus Studie 2020. Gießen 2020. (Download:
https://www.boell.de/sites/default/files/2020-11/Decker-Braehler-2020-Autoritaere-
Dynamiken-Leipziger-Autoritarismus-Studie.pdf)
Decker, Oliver et al. (Hg.): Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten. Neue Herausforde-
rungen – alte Reaktionen? Leipziger Autoritarismus Studie 2022. Gießen 2022. (Down-
load: https://www.otto-brenner-stiftung.de/fileadmin/user_data/stiftung/
02_Wissenschaftsportal/03_Publikationen/2022_11_09_LAS22_Web.pdf)
Maruschke, Robert: Community Organizing. Zwischen Revolution und Herrschaftssicherung,
Münster 2014.

Abdruck bei Jour Fixe Gewerkschaftslinke mit Genehmigung der expreß-redaktion.
Genehmigung wurde zurückgezogen aber der Artikel bleibt noch befristet auf unserer homepage

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