Was ist aus der Gelbwestenbewegung geworden?

Was ist aus der Gelbwestenbewegung geworden?

Oder:

Über die zentrale Erfahrung des kritischen Vertrauens

Die Frage kann ich nur sehr begrenzt, von meiner Erfahrungsgrundlage aus, beantworten. Diese besteht aus drei Komponenten:

Ab Dezember 2018 nahm ich an Pariser Gelbwesten-Demos und -Versammlungen teil, ab Januar 2019 – mit Unterbrechungen – an der assemblée générale (Generalversammlung) der Gelbwesten (Gilets Jaunes, GJ) meines Stadtteils Belleville. Zu Anfang fasste die Kneipe, in der wir uns 1-mal wöchentlich trafen, kaum den Ansturm. Die da zusammenkamen waren altersmäßig und vom sozialen Hintergrund sehr vielfältig. Jedes Mal kamen Neue hinzu, oft auch “Besuch” von anderen assemblées. Es gab (wie in diesem Viertel allgemein) relativ viele Linksintellektuelle unter uns, die “immer schon” an diversen Kämpfen teilgenommen hatten, z.B. als Kommunist*innen (PCF), als Gewerkschafter*innen, als einst “68er*innen”, ehemalige Maoisti*innen, als attac-Aktivist*innen, bei der FI, der NPA, als Beteiligte an den Kämpfen gegen das Arbeitsgesetz, bei Nuit Debout etc. Von diesen Pariser Linksintellektuellen waren nicht wenige überwältigt, beglückt von der gelben Bewegung. Sie waren immer noch von der Notwendigkeit einer grundlegenden Veränderung “ums Ganze” überzeugt, konnten aber seit Jahren nicht erkennen, dass es dafür eine Chance oder ein “revolutionäres Subjekt” gab. Manche von ihnen waren innerhalb der GJ und auch innerhalb unserer assemblée “bescheiden”, d.h., obwohl sie ja sehr viel erlebt, gelesen und reflektiert hatten, begaben sie sich nicht “zum Volk”, um diesem einmal mehr zu verklickern, wo’s langgeht, sondern sie begriffen sich ihrerseits als Lernende, aufmerksam Zuhörende, nicht als Urteilende, Einordnende, Agitierende. Sie beteiligten sich an dem breiten, horizontalen Lernprozesses der GJ. Andere Linksintellektuelle dagegen, verhielten sich weniger hartgesottenen Politaktivist*innen, “normalen Leuten” gegenüber in der assemblée auftrumpfend, rücksichtslos. Die verstummten oft erschrocken, nicht gewohnt, das Wort zu führen, geschweige denn geistreich verbal zurückzuschlagen. Viele dieser “normalen” Nachbar*innen, der typischen GJ, bisher unpolitische Menschen, die nur einmal bei der assemblée vorbeischauten, kamen nie wieder. Eine/r nach der/dem anderen verließen auch die “bescheidenen” Linksintellektuellen entnervt diese assemblée, in der allzu oft jeder Gedankenfluss, jeder gemeinsame Prozess durch einige auftrumpfende Egos vereitelt wurde. Im Laufe der Zeit schrumpfte unsere assemblée beträchtlich. Auch junge, eher proletarische Nachbar*innen aus den HLM um die Place des Fêtes, kamen nicht mehr zur assemblée, obwohl sie weiterhin die gelbe Weste trugen. Sie hatten dort oben eine gelbe Hütte gebaut und verteidigten sie, und zusammen mit der Nachbarschaft, zu der sie gehören, u.a. von Obdachlosigkeit bedrohte sans-papiers, waren sie kontinuierlich auf dem Platz präsent und aktiv. Als die gelbe Hütte, unsere, die der GJ de Belleville, von den “Ordnungskräften” zerstört wurde und wir sie wieder aufgebaut haben – interessierte das die Versammlung der ältlichen Linksbourgeois nicht im Geringsten. Als ich mit den GJ von der Place des Fêtes auch gelegentlich die gelbe Hütte dort betreute und an Aktionen teilnahm, wurde mir sehr klar, dass für sie, die kein bisschen abgegrenzt sind und waren von “den Leuten”, die dort oben wohnen und sich durchschlagen, viel mehr auf dem Spiel stand und steht und sie viel essenzieller GJ waren (und zum Großteil noch sind, ob mit oder ohne gelbe Weste) als die Mittelständler*innen in einem adretteren Teil des Quartiers, in der gemütlichen Kneipe.

Der andere Zusammenhang, in dem ich als GJ und mit GJ Erfahrungen machte, waren die GJ de Montreuil. Ich war nie bei ihrer assemblée générale, aber bei manchen ihrer Revolutionären Clubs (nach dem Vorbild der Französischen Revolution und der Commune) und anderen für alle Welt offenen Aktionen/Treffen, bei denen gemeinsam weitergedacht wurde und sehr unterschiedliche Menschen aus Montreuil, Paris und Ile de France zusammenkamen. Die Revolutionären Clubs waren so offen, das “Wir” so umfassend, dass auch die Planung, Gestaltung eines solchen Abends von – wem auch immer, der wollte – in die Hand genommen wurde. Obwohl Hunderte an dem Club-Abend selber in einer großen, unwirtlichen Halle zusammenkamen, war die Atmosphäre konzentriert, waren es Sternstunden, in denen wir alle so viel voneinander und miteinander lernten und erfuhren, man sich aufmerksam zuhörte, nachdenklich fragte, kaum etwas “Fertiges” vortrug (natürlich auch lachte und Blödsinn machte). Auch unter den GJ de Montreuil gab es neben Lagerist*innen, Lastwagenfahrern, proletarischen Arbeitslosen – Studierende, Linksintellektuelle. Doch die GJ de Montreuil waren, ähnlich wie die auf der Place des Fêtes, vielfältig und real mit ihrer Umgebung, mit der Nachbarschaft verbunden, sie waren diese Nachbarschaft, ganz anders als die geschrumpfte assemblée von Belleville. Die GJ de Montreuil hatten über Monate eine gelbe Hütte an einer Kreuzung stehen, die täglich offen war für die Menschen, die von der Métro kamen, von der Arbeit, vom Einkaufen etc. Da wurde diskutiert, sich ausgetauscht mit jeder/m darüber, wie es weitergehen soll, dazu gabs Tee, Kuchen oder sonst was. Jeden Samstag gingen die GJ de Montreuil mit ihrem Banner “Le people veut la chute du régime” (womit sie sich in die Tradition der Aufstände seit 2011 stellten) zu den “Akten” der GJ in Paris. Sie waren 80, 100 oder mehr bei dieser Gelegenheit.

Schließlich – eine weitere Erfahrungsgrundlage – habe ich bei den “Akten”, den großen samstäglichen Demos der GJ in Paris die “typischen”, die ursprünglichen GJ kennengelernt, die aus der Provinz. Die waren eher proletarisch, kleinbürgerlich und “bis eben” politisch vollkommen unerfahren. Sie stellten, beängstigend für die Regierenden, beängstigend für viele Linke, beflügelnd für andere, eine führungslose, vollkommen offene, vorbehaltlose aufständischen Bewegung dar, die sich die Freiheit nahm, für sich selber zu sprechen. Von diesen GJ selber, “von innen” geschriebene Texte oder auch über sie respektvoll, hinschauend und hinhörend geschriebene Bücher kommen immer noch raus und sind Zeugnis der Erfahrung von Tausenden, die sich befreit haben. Die sind nicht einfach verschwunden. Und ihre kollektive Erfahrung ist es auch nicht. Sie haben in ihren Provinznestern “Berge versetzt”, haben Plätze dauerhaft besetzt, Gebäude errichtet oder renoviert und umgebaut (so die GJ von Saint Nazaire für die dortige ADA, assemblée des assemblées, Versammlung der Versammlungen), obwohl sie wussten, dass das alles ihnen binnen Kurzem wieder genommen, zerstört werden würde. Es ging für sie und bei ihnen wohl um viel Substantielleres als für viele der städtischen GJ und für die relativ gut situierten unter diesen.

Einige von uns – die übrig gebliebenen +/-10 der assemblée de Belleville – haben im Laufe des Sommers 2020 geduldig oder ungeduldig versucht zu benennen und zu erklären, warum es neuerlich etwas Unvereinbares gab. Unvereinbar mit dem, was wir, die die gelbe Weste trugen, über ein Aufstandsjahr lang gemeinsam erlebt hatten. Worauf wir uns eingelassen hatten im Vertrauen, dass es tatsächlich eine geteilte Erfahrung war. Beruhte das Vertauen vielleicht auf einer irrigen Annahme, und unter uns waren immer schon einige gewesen, die etwas ganz anderes erlebt hatten und deren Erwartungen und Ziele von grundlegend anderen Art waren als unsere Hoffnungen und Sehnsüchte? Vielleicht hatten sie eher ungeduldig auf die Zeit gewartet, in der diese kindische Phase vorbei sein würde und man zur ernsthaften politischen Arbeit zurückkehren könnte?

… diese kindische Phase, wie sie zum Beispiel in den 4 Prinzipien zum Ausdruck kommt, die das „Haus des Volkes“ von Saint Nazaire als Grundlage für die Debatten der ADA (assemblée des assemblées, Versammlung der Versammlungen) vorgeschlagen hatte:

  1. Vertrauen in die kollektive Intelligenz;

  1. Keiner, für sich genommen, hat die Lösung, aber alle zusammen haben wir einen Teil der Lösung;

  1. wir haben das Recht, Fehler zu machen;

  1. wir müssen zu Punkten der Konvergenz kommen, aber ohne die Unterschiede zu verdecken.

Immer wieder hatte ich gesehen, dass sie spontan auf der Straße funktionierte, wenn wir uns bedrohlichen Situationen gegenübersahen: unsere kollektive Intelligenz. Sie funktionierte aber auch in Gesprächen, die sich zwischen Einzelnen, in kleinen Versammlungen, am Rande einer Demo und überall im Land entspannen: unsere kollektive Intelligenz aus all den individuellen Intelligenzen sehr unterschiedlicher Menschen, die sich zumeist bis vor kurzem noch nicht gekannt hatten. Und immer wieder habe ich und haben wir erlebt, zunächst ungläubig, dann erleichtert, ja euphorisch, dass man dieser kollektiven Intelligenz vertrauen konnte. Denn dieses Vertrauen schloss ein, setzte sogar voraus, dass den Äußerungen von jeder und jedem gleiches Gewicht zukam und dass Kritik, Dissens, Nicht-Wissen kein Problem darstellten, vielmehr ein Teil des “fragend Vorangehens”. Das war beschlossene Sache, vielmehr Erfahrungssache, die Erfahrung, die GJ irgendwo da draußen auf den besetzten Plätzen, in den gelben Hütten, auf den Supermarktparkplätzen, an den außer Funktion gesetzten Zahlstellen der Autobahnen, am Kreisverkehr machten und in die Metropolen, so auch nach Paris mitbrachten. Und es funktionierte! Es war kein Chaos und keine Ineffizienz, wie einige, wahrscheinlich viele vermuten mögen, die diese Art von kollektivem ungezügeltem Beratungsprozess nicht gewohnt sind. Es war eine Explosion an “Effizienz”: Es wurde täglich so viel geschaffen, erfahren, entdeckt, gelernt, bewegt, verbunden, kreiert! So viel, dass es für den/die Einzelne/n unmöglich alles wahrnehmbar war, und auch jetzt noch (Spätsommer 2021), häufig von unmittelbar Beteiligten, Bücher und Artikel erscheinen, die von dieser Erfahrung Überraschendes bezeugen.

Jede und jeder durfte sich frei fühlen und Verantwortung übernehmen für diese Situation in diesem Moment und für “das Ganze”. Das klingt wie eine Verpflichtung – und das war es auch, wenn auch keine herbe. Eine Verpflichtung allerdings, die nirgends geschrieben steht, weil nirgends etwas geschrieben stand … Alles stand überall auf Wänden, auf Westen, auf Pappschildern. „Ich denke – deshalb bin ich hier“. Es war ungeschriebener Konsens: Es ist unsere Verantwortung zu denken, nicht irgendeinem vorformulierten Konzept zu folgen. Nicht in irgendwelche abgenutzten Formeln, Ideen, Lösungen, Gewohnheiten zu regredieren. Das Wort, die Sprache, unsere Intelligenz, unsere vielfältigen Formen des kreativen Handelns zu befreien, freizusetzen – darum ging es. Eine befreite kollektive Intelligenz ist – unterm Strich – klug und nicht dumm, anders als häufig die auf die führenden Wenigen beschränkte.

Wen du auch trafst auf der Straße, am Rande einer Demo, ihr fühltet euch gemeinsam verantwortlich für das Ganze. Das waren wir im Begriff, uns (zurück) zu holen, uns (wieder) anzueignen. Es gehörte uns doch eh. Wie es zu dieser weit verbreiteten Stimmung und Überzeugung kam? – Keine Ahnung.

Im November 2018, als es begann, da waren es für mich “sie”, die – seltsamerweise – gelbe Warnwesten als „Flagge“ hochhielten. Die irgendwo in der Provinz, auf dem Land, in öden Vorstädten, im Nirgendwo, spontan die uninteressantesten Nicht-Orte besetzten und das unaufhaltsame Fließen der Autos, der Laster, der Waren und der diesen dienenden Menschen unversehens hier … und da… und dort … im ganzen Land zum Stocken (und die Regierung zum Schwitzen) brachten und sich selbst vorübergehend aus dem Dienst an der Ware entließen. Die (noch) Dienenden hupten lachend, stimmten zu, ließen sich gerne ausbremsen.

An diesen Nicht-Orten bauten sie gelbe Hütten, versorgten sich und andere mit Essen und Decken, wurden versorgt, verbrachten Nächte und Tage damit, zu reden, zuzuhören, zu reden, sich kennenzulernen, die Isolation, die Trennung, die Einsamkeit, die Hoffnungslosigkeit, die Langeweile, die Angst zu überwinden, zu begreifen, dass sie es sind, die alles produzieren, die alles am Laufen halten – einschließlich ihrer eigenen gnadenlosen Ausbeutung, Entfremdung. Sie entdeckten ihre Macht – indem sie gemeinsam das Fließen stoppten. Das Fließen, das eben das ermöglicht und nährt, was sie nicht mehr akzeptieren wollten. Sie hielten die Zeit an, stiegen aus ihr aus.

Aus Commercy, einem dieser uninteressanten Provinznester, dessen Namen kaum jemand kannte, kam der Aufruf von einigen von uns, nur zwei Handvoll, an ALLE da draußen: Lasst uns zusammenkommen. Lasst uns voneinander lernen: von unseren vielfältigen Erfahrungen; aus unserer einen, gemeinsamen Erfahrung der Wut, des Benutzt- und Missbrauchtwerdens durch diejenigen, die die Mittel dazu haben. Aus unserer demütigenden Erfahrung, nur zu überleben, nicht zu leben. Lasst uns endlich wagen, auf unsere Weise zu sprechen und zu denken und vorzugehen, auf unsere Weise, die aus vielen Weisen besteht. Wir nannten diese Versammlung von inzwischen Hunderten von unabhängigen Versammlungen im ganzen Land die „Versammlung der Versammlungen“ (ADA oder assemblée des assemblées). Seit Anfang 2019 gab es 5 von ihnen, jede in einer anderen Stadt und Region des Landes, jeweils genährt von den Ideen und Erfahrungen all derer, die an den lokalen Versammlungen und Aktivitäten teilnahmen. (Inzwischen, im Sommer 2021 wurde eine 6. ADA, etwas, das sich so nannte, von einigen wenigen veranstaltet an einem lange geheim gehaltenen geschlossenen Veranstaltungsort an dem um 18 Uhr “Schluss” war, obwohl dies weder das Wetter noch die Covid-Regeln erforderlich machten.)

Seit „Commercy“ wurde klar, dass die Gelbwesten nicht eine Gruppe von Leuten, eine Minderheit oder eine Mehrheit der Französinnen und Franzosen sind, die sich an “die Politik” oder auch “die Gesellschaft” wenden und versuchen, deren Unterstützung für eine wie auch immer geartete gerechte Sache oder ein tolles Projekt oder Produkt zu gewinnen. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu Vereinen, Parteien, Gewerkschaften, NROs, oder zu Unternehmen. Sie versuchen allesamt, möglichst viele Unterstützer*innen/Wähler*innen/ Klienten*innen/Kunden*innen zu überzeugen. Sie kommunizieren mit einem bestimmten Ziel vor Augen von ihrem Innen nach außen, zu den Anderen. Das Ziel definieren sie selber und versuchen dann, es möglichst vielen anderen zu „verkaufen“.

Die Versammlungen der GJ, alle ihre Äußerungen, richteten sich an alle und waren jederzeit offen für jede und jeden und ihre/seine Beiträge. Jede und jeder war eingeladen, sich nicht einem bereits definierten Projekt anzuschließen, sondern Teil des laufenden Prozesses, des gemeinsamen Aufbegehrens, der gemeinsamen Beratung zu werden.

Um diesen kontinuierlichen, ergebnisoffenen Austausch über praktisch alles unter Einschluss von “aller Welt” zu ermöglichen, entwickelten wir bestimmte Wege, ihn zu organisieren, ohne dass sich irgendeine Kontrolle, Begrenzung oder Hierarchie einschleichen oder durchsetzen konnte. Grob gesagt, waren die ADA, in denen alle Ideen und Erfahrungen der lokalen Gruppen zusammenflossen, folgendermaßen organisiert: Jede der Hunderten von lokalen Versammlungen im ganzen Land entsandte jeweils zwei Delegierte und zwei Beobachter. Dies, nachdem ihre jeweilige Versammlung Zeit gehabt hatte, zu diskutieren und zu entscheiden, was ihrer Meinung nach Prioritäten, Herausforderungen, Aktionen waren, die während der drei Tage einer bevorstehenden ADA diskutiert und/oder beschlossen werden sollten.

Wie kann man aus „allem“ kollektiv einige Prioritäten für die nächste ADA auswählen, so dass diese von einigen hundert Delegierten während eines Wochenendes eingehend ausgelotet werden können? – Die lokalen Versammlungen diskutierten, was sie für wichtig hielten und worüber sie sich während der nächsten ADA austauschen wollten. Die Ergebnisse dieser Diskussionen schickten sie an das Organisationskomitee der kommenden ADA, das versuchte, aus allen eingegangenen Vorschlägen einige „Achsen“ der Debatte herauszudestillieren, die wiederum zurückgegeben wurden an die lokalen Versammlungen, um weiter präzisiert und eingegrenzt zu werden, ein Prozess, bei dem bereits viel zu lernen und in Erfahrung zu bringen war über das, was die anderen im Land bewegte. Die Rolle des Organisationskomitees beschränkte sich darauf, lediglich zu sammeln und zusammenzufassen. Schließlich war es an den lokalen Versammlungen, zu besprechen, was sie jeweils ihren Delegierten zu den herauskristallisierten Themen für die ADA auf den Weg geben wollten. Wir nannten diesen fortlaufenden Prozess der kollektiven Beratung „le vrai débat“ („die wirkliche oder wahre Debatte“) im Gegensatz zur „Nationalen Debatte“, die der Präsident lanciert hatte, um die Bevölkerung zurückzugewinnen, die zu dieser Zeit (Ende 2018 und 2019) seiner Kontrolle zu entgleiten schien, ihm einfach nichts mehr abkaufte und sich der Rebellion verschrieb.

Im Spätsommer 2020 erfuhr ich von einigen GJ meiner Pariser assemblée en passant, dass sie die ADAs, diesen Prozess der gemeinsamen Beratung und des Austauschs, als Zeitverschwendung betrachteten, als Ablenkung von dem, was wirklich zählt. Für sie war wichtig, wofür sie, zum Beispiel als Gewerkschafter*innen, ihr ganzes Leben lang gekämpft hatten. Ihrer Meinung nach müssen wir uns alle wieder (!) auf das konzentrieren, was gerade „auf der Tagesordnung“ steht, wenn es um Kämpfe für soziale Gerechtigkeit geht. Die GJ sollten diese Kämpfe stärken. Einige Monate zuvor hatte der Kampf für anständige Altersrenten „auf der Tagesordnung“ gestanden, und jetzt, mit der Pandemie, war es das Gesundheitssystem – Themen, die nacheinander in den Medien und in der öffentlichen Debatte obenan standen oder stehen. Ich war verblüfft, nicht weil ich diese Kämpfe für irrelevant halte – für ein öffentlich finanziertes Gesundheitssystem, das jeden versorgt, für Renten, die jedem ein Leben in Würde ermöglichen, wenn er nicht mehr arbeitet usw. – Ich halte diese Themen tatsächlich für wesentlich, und wir hatten als GJ diese Kämpfe selbstverständlich unterstützt – und ganz schön “gelb eingefärbt”, d.h. freier, kreativer, breiter gemacht und miteinander verbunden bzw. andere inspiriert. So hatte die Bewegung der sans-papiers als Gilets Noirs das Panthéon besetzt. Ich war verblüfft über die Implikationen dessen, was diese GJ als „entweder – oder“ zu betrachten schienen. Aus ihrer Sicht war er also Zeitverschwendung: unser laufender unabhängiger landesweiter (und potentiell viel breitere) Diskussions- und Lernprozess, darüber, wie wir zusammen leben wollen, wie wir gemeinsam zu diesem besseren Leben kommen können, wie wir die grundlegende Veränderung herbeiführen können, wiederum: gemeinsam – diese erstaunliche Errungenschaft der GJ, d.h. aller möglicher Französinnen und Franzosen, auch bisher “unpolitischer”. Denn, so wie sie mir zu verstehen gaben, werden wir nichts erreichen, solange wir – eine Art Kerngruppe oder Vorhut – nicht geschlossen hinter der jeweiligen gerechten Sache stehen, möglichst viele Menschen dafür mobilisieren und damit Druck auf die Machthaber ausüben, damit sie einlenken und endlich Zugeständnisse machen…

Richtig, darum geht es bei Gewerkschaften, Parteien, Organisationen oder Interessensvertretungen: uns ein (besseres) Überleben zu ermöglichen, indem wir uns innerhalb der Totalität, in der wir gefangen sind, möglichst gute Konkurrenzbedingungen ertrotzen. Das hat allerdings das Gedeihen von Reichtum und Macht, die außerhalb der Reichweite der Mehrheit liegen, noch nie in Frage gestellt, hat das auf Ungleichheit beruhende Ganze noch nie zum Wanken gebracht. Im Gegenteil …

Gerade das Spannungsverhältnis, das war das, was die GJ (wie viele Bewegungen vor uns und gerade jetzt, in vielen Weltgegenden) “auf die Tagesordnung” gesetzt haben und worin sie sich durch vulgäre Aktualitäten nicht abbringen ließen: Natürlich müssen wir, um zu überleben, weiterhin diese Kämpfe führen. Aber lasst uns Wege finden, gleichzeitig, womöglich verbunden damit Widerstand zu leisten, Alternativen zu schaffen, vorwärts zu gehen zu einem Leben, in dem es nicht nur darum geht, für bessere Bedingungen des Überlebens zu kämpfen. „Vivre – pas survivre“ – war einer der Slogans, die auf den Rücken mancher Gelbwesten zu lesen waren.

Jene GJ, die meinten und meinen, auf die Beratungsprozesse der ADA und unserer lokalen Versammlungen verzichten zu können, verabscheuen alles, was die „Einheit“ bedrohen könnte, denn Einheit ist der Garant für Erfolg. Aber bei einer Debatte wie der von uns begonnenen geht es nicht um eine vorausgesetzte Einheit, sondern um neue Wege, gemeinsam zu denken und zu handeln, und durch den Austausch über verschiedene Ideen und Ansätze, sogar Kontroversen, eine Art von Einheit zu erreichen, die wiederum nicht stabil oder für immer ist. Und es ging uns in erster Linie nicht darum, die eine oder andere Sache voranzutreiben und in Bezug auf die eine oder andere Sache erfolgreich zu sein, selbst wenn wir sie unterstützen. Deshalb haben die GJ und mit ihnen das ganze Land, als es ihnen im Dezember 2018 gelungen ist, die Regierenden zum Zittern zu bringen und diese sich zu einigen Zugeständnissen gezwungen sahen, am Tag danach gelacht. Das “führungslose Volk” von “Ahnungslosen” kapierte, dass dies nur „Brosamen“ waren, dass sie auf nichts hinausliefen und uns nicht dazu bringen würden, unsere Wut zu besänftigen oder nach Hause zurückzukehren und aufs Sofa vor dem Fernsehbildschirm zu sinken.

Doch im Herbst 2020 waren wir oder viele von uns (ich kann nur über meine Umgebung reden) wieder, wenn nicht unbedingt auf dem Sofa vor dem Fernseher gelandet, so doch jede und jeder in seiner Ecke, auf sich zurückgeworfen. Man mochte das auf die Pandemie, Ausgangssperren und lockdowns zurückführen. Doch das war aus meiner Sicht kein wesentlicher Faktor bei dieser Regression.

Seit dem Frühjahr 2020 gab es ein Organisationskomitee für die kommende ADA, Nummer 6, die in Île de France (der Region um Paris) stattfinden sollte. Dieses Komitee setzte sich also aus GJ aus dieser Region und auch aus Paris zusammen. Da es nur ums Organisieren ging, waren es ein paar Handvoll, und es hätte sich normalerweise um solche GJ gehandelt, die sich v.a. durch praktisch relevante Kenntnisse bezgl. der Verhältnisse vor Ort auszeichnen.

Vielleicht sollte man sich nochmal kurz vor Augen führen, was für eine Region, Île de France ist, deren GJ (oder einige von ihnen) sich darum beworben hatten, die 6. ADA bei sich zu empfangen. – Sie umfasst einerseits die Vororte der Metropole und anderseits kleinere Provinzstädte und auch ländliche Gebiete (geprägt durch eine hochindustrialisierte Landwirtschaft).

In einigen, vielleicht den meisten Vororten von Paris sind die Lebensbedingungen hart, die Arbeitslosen- und die Armutsquote hoch, die Wohnverhältnisse oft miserabel. All dies steht in starkem Kontrast zum Reichtum (des allgemein sichtbaren Teils) der Metropole und unterscheidet sich auch in vielerlei Hinsicht von Lebensbedingungen in den beschaulicheren Kleinstadtgemeinden weiter draußen in derselben Region.

„La banlieue“ wurde und wird von den Regierungen seit Jahrzehnten systematisch vernachlässigt. Die Mehrheit derer, die „da draußen“ leben, sind Kinder oder Enkel derer, die in ihren Herkunftsländern einst unter kolonialer Herrschaft standen und die immer noch mithilfe korrupter Eliten postkolonial in tiefer Abhängigkeit gehalten werden – Verhältnisse, gegen die Bevölkerungen dort seit 10 Jahren und länger aufstehen.

Staat und Polizei führten und führen einen Krieg gegen die Bürger*innen der Banlieue – schon immer. Rassistische Polizeigewalt ist das, was tagtäglich passiert, wobei (hauptsächlich) junge Männer of Color gedemütigt, gejagt, verletzt, verstümmelt und sogar getötet werden. Was französisches Militär und Polizei während der Kolonialzeit praktizierten, ist in den Methoden und der Mentalität derer, die heute in den Vorstädten „Recht und Ordnung“ durchsetzen, immer noch allgegenwärtig. Nah, sie betreffend, sind für diese Bürger*innen der Banlieue auch die Aufstände in ihren Herkunftsländern bzw. denen ihrer Eltern oder Großeltern.

Die Banlieue-Gemeinschaften sehen sich nicht als Opfer, die Banlieue ist „keine politische Wüste“ – im Gegenteil. Im Laufe der Jahre hatte ich die Gelegenheit, dies immer wieder zu sehen und war tief beeindruckt von der Solidarität, den unabhängigen Organisationsformen und dem politischen Selbstbewusstsein vieler Menschen dort.

Die Zusammenschlüsse, Initiativen und Bewegungen aus der Banlieue sind schon sehr früh (am 1. und 8. Dezember 2018, während des 2. und 3. „Akts“ der GJ, die über die eleganten Viertel von Paris hinwegfegten) auf den gelben Aufstand zugegangen, der von den Provinzregionen ausging, wohl wissend, dass sich unter den gelbgewesteten Demonstrant*innen erklärte Rassist*innen befanden.

(Ich bin, noch zaghafte Beobachterin, zu diesen beiden samstäglichen “Akten” der GJ mit klopfendem Herzen gegangen, war auf das Schlimmste gefasst. Ich habe mich zunächst an den Treffpunkt begeben, zu dem am 1.12. v.a. Linke, Antifas, Gewerkschafter*innen, Gruppen aus der Banlieue aufgerufen hatten. )

Aber beide „Seiten“ verstanden bei den ersten Begegnungen „auf den Barrikaden“, dass es sich um einen gemeinsamen Kampf handelte – so pathetisch das klingen mag, aber es erwies sich tatsächlich im Folgenden als nicht übertrieben. Sie lernten schnell voneinander – vor allem (die weißen GJ aus der Provinz von den Banlieue-Bewohner*innen) über Polizeigewalt, ihre Ursachen und wie man sich dagegen schützen und wehren kann. Sie lernten sich kennen bei gemeinsamen Blockadeaktionen, etwa von Rongis, dem Großmarkt von Paris. Sie begriffen, beide Seiten, dass ihre Nöte und Bestrebungen dieselben waren.

Wie war das möglich? – Sie, „beide Seiten“, erlebten und praktizierten das „kritische Vertrauen“, das, so vermute ich, die Voraussetzung für jede Umwälzung dieser Art ist. Es ist die Art von Aufstand, die sehr wohl ohne die Führung einer Avantgarde auskommt, die angeblich im Namen „des Volkes“ agiert, während sie tatsächlich auf die Übernahme, in irgendeiner Form, von Macht abzielt. Da ist er also wieder: der Unterschied und der unterschiedliche Status derjenigen, die – Schritt 1 – auf ihr Ziel fokussiert denken, planen, strategisch vorgehen – und erst dann – Schritt 2 – versuchen, andere anzusprechen und zu überzeugen, zu gewinnen, diese anderen, die im schlimmsten Fall, um es unverblümt zu sagen, „Material“ für die Avantgarde und ihre Bestrebungen sind.

Diejenigen, die sich in Paris am 1. und 8. Dezember 2018 zum ersten Mal trafen und sich auf derselben Seite der Barrikaden wiederfanden, kamen aus ganz unterschiedlichen Richtungen und hatten nichts von dem geplant, was sie dann in den folgenden Wochen und Monaten gemeinsam erlebten und entwickelten. Warum waren sie offen für diese Art, sich einzulassen? Ich habe keine Ahnung. Was ich miterlebte: dieses wunderbare Vertrauen war nicht nur vorgetäuscht, eine opportunistische „Einheit“ in einer Situation, in der beide Seiten ein punktuelles gemeinsamen Interesse ausmachen, nicht nur ein von beiden Seiten als zweckmäßig eingegangenes Bündnis. Diejenigen, die Gründe hatten, zu befürchten, dass sie mit Rassismus konfrontiert werden würden, leugneten dies nicht. Der Austausch darüber und über alles andere, damals und später, war, soweit ich das sehen konnte oder selbst daran teilnahm, ein Austausch zwischen Menschen, die sich durch kritische Fragen nicht angegriffen oder bedroht fühlten. Und die nicht versuchten, „ihr Ding“ durchzudrücken, sei es Feminismus, Ernährungssouveränität, Antirassismus, „Palästina“, „Rojava“, ein funktionierendes, für alle zugängliches öffentliches Gesundheitssystem – oder was auch immer für ein wichtiges Anliegen oder brennendes Thema.

Dieses Vertrauen und diese Offenheit, das echte Interesse für das, was die/der andere zu sagen hatte, was sie/ihn bewegte, war vielleicht die Essenz dieser aufständischen Bewegung wie wohl auch die der anderer Aufstände (Syrien, Sudan, Algerien, Chile …). Du erkennst dich in der/im anderen, dein Ding in dem ihren/seinen – du begreifst, sie/er ist nicht die/der Andere. Und wenn ihr, eben noch Fremde, zusammen vom Tränengas wehrlos gemacht, womöglich sogar beschossen werdet, euch gegenseitig schützt, euch in diesen beängstigenden Situationen einander anvertraut – und am Ende des Tages zusammen feiert, dann beschert euch diese Erfahrung eine Ahnung davon, dass “ihr/sein Ding” und “dein Ding” Teil eines umfassenderen – gemeinsamen – “Dings” sind.

Als ich erfuhr, dass die ADA6 in Ile de France stattfinden würde, war ich begeistert: gerade dort, wo es zahlreiche lokale assemblées von GJ gab, die zum Großteil Wurzeln in Nord- und Westafrika haben und selbstverständlich mit den dortigen Bewegungen und Aufständen verbunden sind. Gerade dort, wo die vielen Komitees der Familien von Opfern rassistischer Polizeigewalt sich in den letzten Jahren zusammen mit Pariser antirassistischen Initiativen und anderen selbstbewusster als viele Jahrzehnte zuvor verbunden haben und ihre Demos 2019 durch die GJ massiv verstärkt wurden. Gerade dort, von wo diese Banlieue-Aktivist*innen auf die Provinz-GJ zugegangen waren.

Doch das Vertrauen und die Offenheit, Grundlage für ein befreites, intelligentes gemeinsames Handeln, bei dem jede/jeder für das Ganze Verantwortung übernimmt, wurde im Laufe des Sommers 2020 vom Organisationsteam der ADA6 zerstört. Der Diskussionsfluss, der alle im Land und darüber hinaus jederzeit einbeziehende Prozess der “wahren Debatte” wurde “gestaut”, “kanalisiert”, geriet unter die Kontrolle weniger. Er “geriet” unter die Kontrolle von ein paar GJ, die die Aufgabe hatten zu organisieren und die diese Aufgabe missverstanden, weil sie, wie ich es mir inzwischen erkläre, in gewissen Denkgewohnheiten gefangen waren.

Wie war das möglich? Warum haben wir es zugelassen, uns wieder einer Bevormundung zu unterwerfen bzw. eine solche zu installieren, wie wir sie als GJ ja gerade mit großer Erleichterung abgeschüttelt hatten? Wie konnten wir uns die Freiheit, die wir uns zusammen genommen hatten und zusammen genossen, wieder nehmen lassen oder aufgeben? Oder hatten manche sie eben doch nicht genossen?

  1. Seitens des Organisationskomitees wurde sich von Anbeginn an auf “Covid”, die Ausgangsbeschränkungen, das stark eingeschränkte Demonstrationsrecht, die (weitgehende) Unmöglichkeit, sich physisch zu treffen, berufen. Hinter diesem Vorwand verschanzte sich dieses Komitee. Weder stieß es den anstehenden Prozess der Schwerpunktfindung an, was auch virtuell ohne weiteres möglich gewesen wäre, noch regte es die GJ-assemblées im ganzen Land an, sich zu äußern – so wie es “früher” nicht nur von der von Commercy, sondern auch von anderen (z.B. der assemblée von Montreuil) mit einfachsten Mitteln geschehen war: ein primitives u-tube-Filmchen, das – jetzt maskiert und mit Abstand voneinander – allen anderen mitgeteilt hätte, wo man – die assemblée x, der Kreisverkehr y etc. – stand, vor welchen Herausforderungen, mit welchen Fragen, welchen Perspektiven in der besonderen Situation des confinement.

  2. Ein bizarr erscheinendes “Problem” war statt dessen fast das Einzige, womit man sich “da draußen” (oder “oben”?) im Orga-Komitee für die ADA6 zu beschäftigen schien: Zwei GJ von einer Pariser Versammlung, die sich als Mitorganisator*innen angebot hatten, machten dem Orga-Komitee angeblich “Probleme”, besonders einer, der irgendwie mit der Polizei kooperiert haben soll. Nun war das Orga-Komitee nicht im Untergrund und plante keineswegs subversive Aktionen. Ein stinknormaler Konflikt mit (oder zwischen?) vielleicht “schwierigen” Personen, wie er in jedem Team auftauchen kann, nahm groteske Ausmaße an und verschwand hinter einer Nebelwand von Gerüchten, wilden Verdächtigungen. Die Rede war von einer „Untersuchungskommission“, die eingerichtet werden sollte (und dann doch nicht), um den „Fall“ aufzuklären. … An einem Punkt verließen einige Mitglieder unserer Versammlung angesichts der “stalinistischen Methoden” wütend ein Online-Treffen. Sie kannten die „Verdächtigen“ und die Versammlung, aus der sie kamen und wussten, wie absurd das Theater war. Das wiederum ließ uns nicht innehalten, sondern es löste innerhalb unserer Versammlung eine Welle des Verdachts, des Misstrauens und der Kontrolle, vor allem des Informationsflusses, aus. Und es setzte eine Sprache frei, die symptomatisch war für das, was wir – d.h. unsere Kerngruppe einer Pariser Versammlung von GJ und das Organisationskomitee der ADA6 – geworden waren. Einige von uns waren genauso irritiert wie die vier, die gegangen waren, versuchten aber noch, eine Klärung, ein offenes Gespräch unter Einbeziehung aller Beteiligten herbeizuführen. Vorschläge diesbezüglich wurden empört zurückgewiesen – als womöglich symptomatisch dafür, dass man “mit denen”, die unsere assemblée verlassen hatten, “zusammenarbeitete”. Formulierungen tauchten auf – und wurden nicht zurückgewiesen – wie etwa: “haben sich verschworen”, “destabilisieren”, „interne (!) Informationen“ “durchsickern lassen”, “Bedrohung”, “sag niemandem, dass ich dir das gesagt habe, sonst kriege ich Schwierigkeiten”… Die “Dissident*innen” hatten die Dinge vollkommen richtig gesehen.

  3. Unterdessen widmete sich das Orgateam auf seine Art der Vorbereitung der ADA6: nicht, wie es seit der 1. ADA in Commercy gemeinsam entwickelter Konsens war. Das wäre die Organisierung des Prozesses der Themenfindung durch die 100e GJ-assemblées im ganzen Land gewesen (außerdem das Finden eines Veranstaltungsorts, von Unterkünften etc.). Statt dessen bastelte das Komitee eine technisch aufwendige, inhaltlich extrem öde website (wie für den “Auftritt” einer kleinen Firma oder eines Vereins) – und setzte seinerseits – unter Ausschluss der Öffentlichkeit – schon mal Themenschwerpunkte entsprechend den Steckenpferden einzelner Komitee-Mitglieder: “Das Internationale” und “Die Umwelt”. Davon und, wie “Das Internationale” von diesen GJ verstanden wurde, erfuhren ich (als ich noch nicht für “verdächtig” galt) und zwei GJ aus der assemblée de Belleville, weil wir als Übersetzer*innen (ins Italienische, Portugiesische und Deutsche) von “da draußen” einen Auftrag erhielten. Niemand sonst erfuhr zu diesem Zeitpunkt von der inhaltlichen Schwerpunktsetzung durch das Orga-Komitee. Bei der Bitte um Übersetzung handelte es sich um eine Einladung an GJ oder ähnliche Bewegungen in aller Welt, vor allem aber in Europa, zur ADA6 zu kommen. Der Tenor: wir, Frankreich, die GJ sind der Nabel der aufständischen Welt, die wiederum v.a. in Europa angesiedelt ist.

Zwei von uns Übersetzer*innen äußerten – vollkommen verblüfft, aber immer noch auf die offene, vertrauensvolle GJ-Diskussionskultur vertrauend – unsere Bedenken/Kritik: Wie konnte es sein, dass das Orga-Komitee für die ADA6 inhaltliche Schwerpunkte setzte, ehe die landesweite Diskussion darüber auch nur begonnen hatte? Abgesehen davon, wie konnte es sein, dass in diesem Aufruf nicht die geringste Kenntnis davon aufschien, wie reich und intensiv die Beziehungen gerade mancher GJ-assemblées in Ile de France mit u.a. algerischen und syrischen Beteiligten an den Aufständen in diesen Ländern waren? Wie konnte es sein, dass irgendwelche GJ in Ile de France derart herablassend, kolonialistisch, ignorant aus Frankreich auf die Aufstände in (z.T.) ehemaligen französischen Kolonien herabblickten?

Die Antworten und Reaktionen, die wir bekamen, waren (wie schon beim Umgang mit den beiden “schwierigen” GJ) entlarvend. Diese paar GJ vom Orga-Komitee, hatten nicht das geringste Bewusstsein vom Prozess der ADAs und wurstelte drauf los, wie sie es in irgendwelchen Parteigliederungen oder Jobs gelernt hatten: Sie gebärdeten sich als Zentralkomitee oder Leitungsgremium. Was die aufständischen Bewegungen und ihre Präsenz in unserer Region angeht – waren sie so tief ignorant, geradezu unschuldig ignorant, dass sie es nicht einmal merkten. Sie kannten einfach nur den europäisch-kolonialistischen Approach, dass “die da unten” nur von “uns” lernen, zu “uns” aufblicken können. Selbstverständliche Augenhöhe, wie ich sie zwischen Algerier*innen und anderen sowie zwischen syrischen Revolutionärinnen im Exil und anderen bei den GJ von Montreuil erlebt habe, konnten sie sich offenbar nicht vorstellen, hatten sie noch nie erlebt (und hatten offenbar keine Verbindung zu den GJ de Montreuil, obwohl die in Ile de France sind – geschweige denn zu anderen GJ-assemblées im Land).

Warum haben wir diese Entwicklungen zugelassen, uns eine Kernerrungenschaft der GJ aus der Hand nehmen lassen? Was hätten wir, die nicht mehr übersehen konnten, dass etwas nicht mehr stimmte, anders machen müssen?

Rückblickend denke ich, wir – jede, jeder von uns – hätte angesichts des Lockdowns, der uns tatsächlich erst mal in unsere Wohnungen und Stadtteile einsperrte, sofort darüber nachdenken und Vorschläge machen sollen, wie wir trotzdem auf der Straße tanzen und wie wir trotzdem das, was anstand, mit anderen Mitteln hätten weiterführen können, so auch selbstverständlich die möglichst alle einbeziehende Vorbereitung der ADA6, selbst wenn Vieles eine Zeitlang nur übers Netz laufen konnte. Wir hätten schlicht die Ausreden des Orga-Komitees nicht hinnehmen sollen. Wir hätten alle, die wir kennen, einladen können, sich Gedanken über die nächste ADA zu machen (da es dieses ferne, unsichtbare Orga-Komitee versäumte, das zu initiieren und sich uns nicht einmal zeigte). Wir hätten uns darauf besinnen können, dass wir als GJ, jede/r von uns, jederzeit etwas vorschlagen und diesen Vorschlag über all die Listen und Kontakte, die wir haben, ventilieren kann. Stattdessen ließen wir uns lähmen, mundtot machen, indem wir wochen-, monatelang darauf warteten, dass das Orga-Komitee uns endlich die Erlaubnis geben würde, loszulegen. Wir waren bereits gefangen in dem Kontroll-Dispositiv, das “die da draußen” installiert hatten.

Immerhin haben ein paar von uns, GJ de Belleville, im August 2020, als es wieder möglich war, sich live draußen zu treffen, tatsächlich, anknüpfend an den sehr ergiebigen Diskussionsprotokollen der ADA5, Themenschwerpunkte entwickelt und diese dem Orga-Komitee weitergeleitet – worauf zunächst keine Reaktion erfolgte. Und dann, auf Nachfrage, ein herzliches Dankeschön. Nichts, was jemals, auch von anderen assemblées nach “da oben” gemeldet wurde, ist bekanntgemacht worden, z.B. auf der grandiosen website. Im übrigen habe ich z.B. bei den Demos gegen das Allgemeine Sicherheitsgesetz GJ aus Paris und der Banlieue getroffen, die allesamt keine Ahnung von einer in unserer Region anstehenden ADA6 hatten. Sie agierten weiterhin “auf GJ-Art”, jeweils als Gruppe vor Ort und von ihrer jeweiligen assemblée und deren Diskussionen ausgehend.

Wir hätten uns bei der ersten durchsickernden (!) Info über einen “Untersuchungsausschuss”, der auf irgendwelche GJ angesetzt werden sollte, verweigern sollen, überhaupt noch weiter zu reden über diesen Quatsch – so wie die Vier, die unsere assemblée verließen.

Wir Übersetzer*innen hätten uns unbedingt weigern sollen, den absurden Auftrag auszuführen (s.o.), spätestens, nachdem wir kritisch nachgefragt und darauf keine Antwort bekommen hatten.

Für all das waren wir offenbar nicht entschlossen genug, nicht aufmerksam genug. Zu überrascht, zu vertrauensselig – “vertrauensselig”, was eben nicht das Vertrauen ist, das jederzeit die Möglichkeit der kritischen Nachfrage einschließt und die Selbstverständlichkeit, dass Kritik – als Beitrag zum gemeinsamen Anliegen – auch ernst genommen und nicht freundlich oder empört abgeschmettert wird.

Was hat diejenigen in unserer assemblée und die GJ vom Orga-Komitee motiviert, ein Kontroll-Dispositiv zu installieren, wie wir es aus der normalen Politik und Verwaltung oder aus Betrieben und Institutionen kennen? Nachdem ich manche von ihnen als GJ kennen- und schätzengelernt habe, kann ich mir ihr destruktives Verhalten nur damit erklären, dass es auf die tiefe Internalisierung von Gewohnheiten zurückgeht. Sie können es sich schlicht nicht vorstellen, dass ohne Kontrolle, Hierarchie, Wissensvermittlung (selbstverständlich vom/von der Wissenden zur/zum Unwissenden) irgendetwas erreicht werden kann. Man hat sowas noch nie erlebt, es gibt immer ein Innen (oder “Oben”) und ein Außen (oder “Unten”), wobei das Innen nach Außen wirkt, etwas zuvor Definiertes bewirken möchte. Und es lauern leider immer – jedenfalls im Fall einer “revolutionären” Bewegung – feindliche Kräfte, die versuchen, in das Innen einzudringen, es zu unterwandern, auszuspionieren, es zu destabilisieren … Dagegen muss man es schützen.

Auf einen Aspekt, der mit dem des Vertrauens zusammenhängt, das heißt mit dem Vertrauen, alles miteinander klären zu können, uns/sich jedenfalls die Chance dazu zu geben, möchte ich unbedingt noch eingehen.

Es ist sehr viel falsch, oberflächlich, hämisch darüber berichtet worden, dass “die GJ” rechts seien, viele von ihnen Antisemit*innen. Tatsächlich gab/gibt es unter den GJ Rechte, Verschwörungstheoretiker*innen, Antisemit*innen, Rassist*innen, Islamophobe. All das war oder ist vermutlich unter ihnen ungefähr so verbreitet wie in der französischen Bevölkerung allgemein. Auf dem e-mail-Verteiler der GJ de Belleville (mit ca. 200 Eingeschriebenen) tauch(t)en immer wieder, ausgehend v. a. von einer Frau (die sich als links definiert) in diversen Kontexten die abstrusesten verschwörungstheoretischen Auslassungen auf, denen andere (ebenfalls Linke) zustimm(t)en. Besonders wild wurde es im Kontext der Pandemie, und die Zustimmung, die diese GJ erfuhr, wuchs erneut. Immer, wenn sie wieder einmal finstere Machenschaften von Drahtziehern etc. beschwor, nachdem sie auf den ersten Blick durchaus nicht unintelligent argumentierte und entsprechende links lieferte, die man sich erst mal genauer ansehen musste, um sie zu dekonstruieren – gab es einzelne von uns, die genau das sorgfältig und genau taten, ohne sie als Person anzugreifen. Viele lasen offenbar schweigend mit, manche stimmten der Kritik zu und verstärkten sie, andere verteidigten die “arme” Verschwörungstheoretikerin gegen die “unfairen” Angriffe.

Ich bin überzeugt, dass diese Art der Auseinandersetzung die einzige ist, die solche giftigen, menschenverachtenden und verblödenden Konstrukte, die in nicht wenigen Köpfen nisten, rechten wie linken – vielleicht – überwinden helfen kann. Unter den GJ scheint es einige zu geben, die von solchen Ideen abgekommen sind, nachdem man sich innerhalb der Bewegung auf der Grundlage des Vertrauens, des grundsätzlichen Respekts offen austauschte. Dann, und nur dann, hast du tatsächlich die Wahl, andere Infos und Argumente an dich ranzulassen, als die, an die Du bisher “geglaubt” hast. Denn dergleichen ist tatsächlich immer “Glaubenssache”, zunächst “immun” gegen Informationen oder Logik. Ich bin, auch durch die Erfahrung als GJ, überzeugt, dass man fragwürdige, auch üble Ideen nicht “bekämpfen” kann, indem man diejenigen, die sie vertreten, verteufelt, ausschließt, verurteilt. Sie werden dadurch sicher nicht von ihren Ideen abkommen. Im Gegenteil.

Menschen, die etwa in “den Migrant*innen” oder im “Islam” oder in “Rothschild” ein “Problem”, eine “Bedrohung” für “uns” sehen, womöglich das entscheidende Problem, werden an dieser Fiktion festhalten, die sie offensichtlich befriedigt und ihnen Orientierung liefert. Wenn sie und andere, die möglicherweise ähnlich denken oder “ahnen”, erleben, dass ihnen vertraute Argumentationsmuster präzise und ohne Herablassung dekonstruiert werden, dass andere Informationen, Argumente ins Spiel gebracht werden, haben sie die Wahl, daraus Schlüsse zu ziehen.

Gerade im Verlauf der letzten Wochen (inzw. August/Sept. 2021) ist für mein Gefühl und das mancher anderer auch dieser Versuch innerhalb der übriggebliebenen assemblée de Belleville, die, wie gesagt im Wesentlichen aus Altlinken besteht, an seine Grenzen gestoßen. Auch unter ihnen gibt es einige, die im Zusammenhang mit der Pandemie wüsteste Verschwörungstheorien bis hin zu antisemitischen Andeutungen (letztere als harmlos) verteidigen und dabei die kritische Infragestellung mit purer Verächtlichmachung der Person beantworten. Die anderen, ebenfalls Linke und sicher keine Antisemit*innen, in diesem Grüppchen lassen dies, wie es scheint, als “Meinung” gelten – wohl um der Geschlossenheit, der “Einheit” willen. Ein sehr problematischer linker Reflex.

Der Prozess – gemeinsame Reflexion und gemeinsames Handeln – der Assemblées des Assemblées (1 – 5) ist fürs Erste am Ende.

Auch eine – glücklicherweise untypische – GJ-assemblée wie die von Belleville ist am Ende bzw. sie ist zu dem geworden, was sich manche wohl immer schon gewünscht haben: ein Stammtisch von älteren “Militant*innen” mit lebenslangen Erfahrungen in gewerkschaftlichen und linken Kämpfen, die sich 1 x wöchentlich in einer netten Kneipe (ursprünglich Treffpunkt der GJ de Belleville) treffen, in und vor der jetzt viel Platz ist. Sie tagen da unbemerkt, unberührt von der Welt, von der sie sich ihr Bild machen – schon lange gemacht haben.

Das ist nicht “schlimm”. Es ist auch nicht “schlimm”, dass man eher selten und eher wenige gelbe Westen (das Textil) auf der Straße sieht. Die Menschen, die sie gut 1 Jahr lang getragen haben, und ihre befreienden Erfahrungen sind nicht weg. Sie sind überall, hier und da auch mit vollgekritzelter gelber Warnweste, die inzwischen reichlich verblichen und abgetragen wirkt. Aber keineswegs passé.

Spaltung” ist ein Problem von Parteien, die sich in ideologisch aufgeladene Machtkämpfe verbeißen. Für uns, GJ, ist es kein Problem. Wir brauchen keine Einheit, die sich nicht in der gemeinsamen Erfahrung und der gemeinsamen Reflexion immer wieder neu herstellt. Diese Erfahrung ist nicht “weg”, diese Reflexion findet weiterhin statt.

Relativ unsichbar zu sein, ist auch kein Problem. Die vulgäre Aktualität, um die andere buhlen, interessiert nicht.

Ich höre, auch über die GJ von La Ciotat und andere im Land, dass sie sich auf das Lokale besonnen haben, wieder verstärkt von dort ausgehen. Sich neu fragen, worum es vor Ort und somit auch überhaupt geht, worauf es ihnen, den Menschen dort, die über die GJ zusammengefunden haben, ankommt.

Die Menschen mit der befreienden Erfahrung der gemeinsamen Selbstermächtigung sind da.

On est là!

Sophia, September 2021

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